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#metoo

Venedig, 06. November 2017, bei Monteverdis 'Il ritorno d'Ulisse in patria' unter René Jacobs

Es gibt, meiner Ansicht nach, ein krasses Missverhältnis in der gegenwärtigen Sexismus-Debatte, über das man dringend nachdenken sollte. Man könnte es auf den einfachen Satz bringen: DER MANN ALS OPFER KOMMT NICHT VOR. Vermutlich werden Sie das für völlig normal halten, denn MANN und TÄTER sind ja schließlich Synonyme. Das soll angeblich sogar genetisch zu begründen sein.

Gut, sei dem so. Ich will das nicht anzweifeln. So wie ich übrigens die #metoo Debatte für richtig und für längst überfällig halte. Aber ist Ihnen mal aufgefallen, dass all den belästigten Frauen, so weit sie sich bisher geoutet haben, nur ein einziger Mann gegenübersteht? Und zudem einer, der selbstverständlich nicht von einer Frau sondern von einem schwulen Mann belästigt worden ist.

Ich will Ihnen zwei Geschichten erzählen. Eine handelt von sexueller Belästigung, der eine jahrelange Verleumdung folgte. Die andere handelt von Missbrauch.

Die sexuelle Belästigung fand etwa 1977/78 statt. Das war die Zeit, in der wir, junge Eltern allesamt und ganz super fortschrittlich, einen eigenen Kinderladen gründeten. Mein ältester Sohn war drei, vier Jahre alt und wurde morgens von mir zum Kinderladen gebracht. Nun kam es immer wieder mal vor, dass die Kindergärtnerin krank war, sodass die Eltern reihum die Kinder bei sich zu Hause betreuten. So brachte ich meinen Sohn eines Morgens zu Familie X, mit der wir auch befreundet waren. Und was fand ich vor? Ich stand, als ich mit meinem Kind zur Tür herein kam, vor einer vollkommen nackten Frau, nämlich der Mutter des kleinen Mädchens, mit dem mein Sohn an diesem Morgen spielen sollte.

Natürlich nahm ich an, sie habe noch keine Zeit gehabt, sich etwas anzuziehen, weil sie noch nicht mit mir gerechnet hatte. Aber dem war durchaus nicht so, denn sie lief weiter nackt durch die Wohnung, ging in angrenzende Zimmer, kam immer noch nackt zurück usw. Ich hätte ihr nur folgen müssen, was ganz augenscheinlich auch von mir erwartet wurde. Das tat ich aber nicht, stattdessen zog ich meinem Sohn den kleinen Rucksack von den Schultern, zeigte ihm sein Frühstück und verabschiedete mich dann.

Ich erzählte den Vorfall noch am gleichen Tag meiner Frau, die aber nur irritiert lachte. Ich lachte nicht, begriff aber, dass es ihr nur darum ging, dass ich das so offensichtliche Angebot nicht angenommen hatte.

Was folgte, das war eine jahrelange Verleumdung hinter meinem Rücken. Ich bemerkte das zuerst natürlich nicht, aber irgendwann war es so deutlich, dass ich von den meisten anderen Eltern geschnitten wurde, dass mich die Kindergärtnerinnen zu beaufsichtigen schienen, mich niemals mit den Kindern allein ließen. Das ging so weit, dass eine der anderen Mütter zu meiner Frau ‚unter vier Augen‘ sagte, sie fände es sehr erstaunlich, dass sie es mit solch einem grauenhaften Kerl wie mir aushalte. Meine Frau erzählte mir das lachend und sagte dann im wegwerfenden Ton, naja, die können ja auch nicht wissen, wie nett du bist. Ich lachte auch diesmal nicht.

Als ich mich Jahre später scheiden ließ und restlos alle meine angeblichen Freunde und Bekannten mich fallenließen, weil sie es ja immer schon gewusst hatten (was nur?) da wurde die Scheidung lediglich noch als endgültige Bestätigung für das genommen, was alle über mich schon lange gedacht hatten. Und als ich meine geschiedene Frau daran erinnerte, dass ich ihr doch schließlich von dem Vorfall erzählt habe, da antwortete sie nur lachend: „Das habe ich dir sowieso nie geglaubt.“ Ich lachte nicht, mir war für viele Jahre das Lachen vollständig vergangen.

Mein zweites #metoo handelt von einem Missbrauch in der Familie. Ich weiß nicht mehr genau, in welchem Alter mir das passiert ist. Zudem hatte ich das Ereignis sehr lange völlig verdrängt bzw. es war unter einer Deckerinnerung begraben. Dann kam eine Zeit, so zwischen meinem dreißigsten und vierzigsten Lebensjahr, in der ich Panikattacken bekam, schlimmste Alpträume hatte, in denen ich gefangen war, aus denen ich nicht zu erwachen vermochte und unter körperlichen Lähmungserscheinungen litt, sodass ich oft für Minuten oder auch Viertelstunden gänzlich unfähig war, mich zu bewegen, wie sehr ich auch gegen diese Lähmungen ankämpfte. Das ging beinahe zehn Jahre hindurch so, bis ich mit Hilfe einer befreundeten Therapeutin begriff, was da eigentlich vorlag und um was es sich bei der seltsamen Deckerinnerung tatsächlich gehandelt hatte.

Nun, die Symptome verschwanden, zwar nicht sofort, aber irgendwann, als ich etwa 45 Jahre alt war, kam nichts davon mehr zurück. Und dann kam der Tag, an dem ich dachte, wenn mir das in der Familie passiert ist, dann könnte es ja möglicherweise auch meinen jüngeren Geschwistern zugestoßen sein. Ich zögerte lange und machte dann einem meiner Brüder gegenüber eine Andeutung. Die Reaktion war das Schlimmste, was ich jemals erlebt habe. Die Reaktion kam wie eine Explosion. Mein Bruder beschimpfte mich derart übel, versuchte mich lächerlich zu machen und sorgte anschließend dafür, dass ich quasi aus der Familie ausgestoßen wurde. Er, mit dem ich den intensivsten Kontakt gehabt hatte, brach den Kontakt vollkommen ab. Und auch alle anderen schweigen mich seither an.

Ich war danach in der Familie derart isoliert, dass ich manchmal dachte, ich müsse sterben. In der ethnologischen Literatur wird ja von Naturvölkern berichtet, bei denen jemand, der aus dem Sippenverband ausgestoßen wird, was gleichbedeutend mit einem Todesurteil ist, auch wirklich stirbt.

Nun, den Gefallen habe ich ihnen nicht getan. Aber ich bin sicher, dass es ihnen das Liebste gewesen wäre.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie so etwas niemals ertragen mussten oder in Zukunft noch müssen. Denn sonst fällt es Ihnen möglicherweise schwer, glücklich zu bleiben. Und das hoffe ich doch für Sie.

Herzlich
Ihr PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker