Das hast du doch nur gelesen
Venedig, Freitag, 27. Oktober 2017, bei Bachs "Inventionen 1 - 15", mit Ton Koopman am Cembalo
Wir beten im Studiersaal. Seine Schönheit
verdankt der Raum seiner Schlichtheit.
Seine einzige Zierde sind Bücher. Wenn ich
bei den Bücherwänden stehe, habe ich das
Gefühl, ich stünde am Ufer einer Unendlichkeit.
(Leon Wieseltier: Kaddisch)
Das Wetter ist immer noch so prachtvoll, dass ich es gar nicht glauben mag, pralle Sonne am blauen Himmel den ganzen Tag, sodass ich seit dem Morgen bei offener Tür arbeite. Hat Lars Gustafsson nicht einmal geschrieben „Tief hängt das Dach des Oktobers“? Vermutlich irre ich mich, auf das gegenwärtige Jahr triff es auf jeden Fall nicht zu. Oder er meinte den November.
Ich lese zuviel, sodass nicht jede Erinnerung an das Gelesene zwangsläufig richtig sein kann. Die Textstelle in Chatwins „Traumpfade“ habe ich auch immer noch nicht gefunden, obwohl ich mich inzwischen der Seite 300 nähere. Überhaupt, was ist das mit den Büchern und dem Lesen?
Vor Jahren erzählte mir D., der Bruder, von dem ich in einer der letzten Nächten geträumt habe, von einem Gespräch. Ich weiß nicht mehr um was es ging, aber da es D. war, so wird es um Philosophie oder Wissenschaft gegangen sein. Er hatte etwas erklärt oder korrigiert, was sein Gesprächspartner falsch verstand. Und das Ende vom Lied war, dass der andere hernach abwertend zu ihm sagte: „Ach, naja, das hast du doch alles nur gelesen.“
Das hatte D. etwas ärgerlich gemacht. Was stellt der Kerl sich denn vor, woher Wissen eigentlich kommt? Denkt der, alles was man wissen kann wächst im eigenen Garten hinter dem Haus und muss von Hand geerntet werden? Natürlich habe ich es gelesen! Unser aller Wissen stammt aus Büchern seit es die Schriftkulturen auf der Erde gibt.
Laut Bruce Chatwin ist der Urzustand der Mensch in Bewegung, also das nomadische Dasein. Die Bezeichnung Nomade kommt vom griechischen ’nomos‘, was Weide bedeutet. Der Nomade zieht zwischen seinen verschiedenen Weidegründen hin und her, je nach Jahreszeit. Erst später wurde aus Nomos das „Gesetz“, weil die Zuweisung der Weidegründe geregelt werden musste. Natürlich haben Nomaden keine Bücher, keine Bibliotheken, die sind den sesshaft Gewordenen vorbehalten. Umfangreiche schriftliche Dokumente wie die Keilschrifttafeln tauchen erst mit den ersten Städten auf. Ur war etwa um 5.000 v. Christus besiedelt, Catalhöyük um 8.000, und als erste 10.000 Jahren v. Christus Jericho.
Die Fachleute streiten sich über die Anfänge der Schrift, aber Nomaden, die mit ihren Herden umherziehen, werden keine Keilschrifttafeln im Gepäck gehabt haben. Chatwin verzeichnet in seinen Notizbüchern eine Begegnung mit einer Afrika-Kennerin in Mali, die er fragte, welche Spuren die Rinderhirten in der Sahelzone für einen Archäologen zurückließen, wenn sie von einem Lagerplatz aufbrachen.
Sie dachte einen Augenblick nach und antwortete dann: „Sie verstreuen die Asche ihrer Feuer. Nein! Ihr Archäologen würdet nichts finden. Aber die Frauen flechten kleine Kränze aus Grashalmen, die sie an die Zweige ihres Schattenbaums hängen.“
Das ist alles, das ist es, was die stadtmüden Ökofans, die sich zurück aufs Land und in die Natur wünschen, immer vergessen. Vom Land sind keine sonderlichen Kulturleistungen ausgegangen, für die Kulturleistungen sind erst die Stadtkulturen verantwortlich. Kein umherziehender Hirte oder Jäger hat die Schrift erfunden, hat zu philosophieren begonnen, Bauwerke errichtet usw.
Aber der Übergang von der Kultur der Jäger, Sammler und Hirten zu den Stadtkulturen ist sicher nicht ohne große Konflikte vor sich gegangen. Bei Herodot, dem Vater der Geschichtsschreibung, findet sich eine Stelle, an der er vom Besuch einiger Griechen in Ägypten berichtet, die, als sie die von Menschenhand errichteten Berge aus Sandstein sahen, sie Pyramiden nannten, weil ihre Form sie an kleine Weizenkuchen erinnerten, die an Straßenständen verkauft wurden. Er fügt hinzu, daß die Einwohner der Gegend ihren Bau als eine Zeit des Schreckens in Erinnerung hatten und den Namen der Erbauer, Cheops und Chephren nicht auszusprechen vermochten. (nach Chatwin, S. 255)
Da wundert es wenig, dass auch heute noch die weitaus meisten Menschen entweder gar nicht lesen können oder es doch, so sie es einmal grundsätzlich gelernt haben, nicht wollen und nicht tun. In der sogenannten Leseforschung typisiert man die verschiedenen Gruppen von Lesern. Nach Hans E. Giehrl machen unter allen Lesern die die größte Gruppe aus, etwa 80%, die er die funktional-pragmatischen Leser nennt. Dazu gehören auch die Nicht-Leser, die lesenden Analphabeten, deren Lektüre sich auf die Nachrichten der Boulevardblätter beschränkt, und die Zweckleser, also die Menschen, die nur hin und wieder mal etwas aus beruflichen Gründen lesen. Zu dieser Gruppe gehören übrigens bis zum 50. Lebensjahr etwa 95% aller Männer.
So wahnsinnig viel scheint sich also seit der Zeit der Hirtennomaden nicht geändert zu haben. Oder sagen wir es umgekehrt, sagen wir, das, was sich geändert hat, ist das Beste, was wir erreichen konnten.
Und nun, heute, im Zeitalter des Homo Digitalis? Der digitalen Nomaden. Wie schaut es da aus? Ich denke, eher schlecht, und ich erinnere mich dabei an jemanden, der mir nahe steht. Er teilte mir vor einiger Zeit mit, dass er die letzten Bücher, die sich noch in seiner Wohnung befanden, weggegeben hat. Falls ich noch jemals ein Buch brauchen sollte, meinte er, so wird es mir reichen, es auf den Kindle runterzuladen. Man stelle sich das vor. Er hat sogar einen Kindle, doch der scheint leer zu sein.
Ich bitt Sie, bleiben Sie glücklich.
Bleiben Sie Leser, ohne Bücher gibt
es keinen Weg zum Glück.
Ihr PHG
PS: Aber Sie können natürlich auch sagen: Das hat der Gogolin doch alles nur gelesen!