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Schauen, was uns bleibt

Venedig, Donnerstag, 26. Oktober 2017, mit den Orchester Suiten von Bach (BWV 1066 - 1069)
mit dem Oregon Bach Festival Chamber Orchestra unter Rilling
»Ich bin die Dämmerung leid, gehen wir nach Hause
gehen wir nach Hause, Licht anmachen.«
(Giorgos Seferis: Der letzte Tag)

Flatteriger Morgen im Gemüt, viel Flug- und Schiffsgedröhne, wohl aus Richtung hinter San Giorgio Maggiore, worauf ich aus meinem Arbeitsfenster etwas schräg schaue.

Im Traum gegen Morgen war ich in meiner Geburtsheimat Schleswig Holstein und sprach mit meinen beiden jüngeren Brüdern D. und U. Zu meiner Linken saß D., U. rechts von mir. Wir gingen nach draußen und stellten fest, dass das Land überflutet war, der Wind peitschte das Wasser hüfthoch über die Wiesen, eine Bushaltestelle, halb unter Wasser, kam uns entgegen. Erst als ich erwachte, fiel mir ein, dass Bruder U. längst seit vielen Jahren tot ist.

Ich weiß nicht, was die beiden von mir wollten. Mitunter erkenne ich das in Träumen, diesmal nicht. U. hat mich in den letzten Jahren sicher schon ein halbes Dutzend Male besucht. Ich dachte spontan, dass nun vielleicht auch D. gestorben sei, aber das will ich nicht glauben. Der einzige, zumindest von der Symbolik her, sinnvolle Zusammenhang wäre der Handlungsort an der Holsteinischen Küste und das viele Wasser. U. liebte das Hochseeangeln und ist oft hinausgefahren. So haben wir ihn folgerichtig und seinem Wunsch entsprechend auch auf See bestattet.

Giorgos Seferis, mit dessen Gedichten ich mich gegenwärtig fast ausschließlich befasse, schreibt am 30. September 1938 spätabends in sein Tagebuch: „Ich bin 38 Jahre alt. Von jetzt an müssen wir schauen, was uns bleibt und was wir damit anfangen können.“

So nahe am Beginn des 2. Weltkrieges spricht aus dieser Aussage natürlich weit mehr als ein nur privates Empfinden. Was spricht aus dem meinen, wenn ich knapp 68jährig ähnlich formulieren würde?

Die Weltverhältnisse lassen letztlich alles erwarten; mir scheint, wir sind so nahe an einem Weltkrieg wie seit Sarajevo nicht mehr. Und wenn, dann werden wir mit mindestens ebensoviel Dummheit hineingetappt sein wie damals.

Aber ich will nicht den Fehler so vieler alter Leute machen, die ihre inneren Verhältnisse auf die Welt projizieren. Glauben wir also lieber, dass es dort draußen weit heller, ja lichter ist, als in mir. Verstrickt in Verhältnisse, auf die man keinen Einfluss hat, ist das noch der beste Weg. Gehen wir also Licht anmachen.

Ich wünsche Ihnen helle Tage
und bleiben Sie glücklich

Ihr PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker