Literatur lesen! Wie denn?
Wiesbaden, 25. Oktober 2017, bei Sergey Prokofiev, Violin Konzert Nr. 1 in D, Op. 19, mit Frank Peter Zimmermann, Violine und den Berliner Philharmonikern unter Lorin Maazel
Ich möchte einige Ausführungen zum Thema LESEFÄHIGKEIT machen, die vielleicht hilfreich sind. Zwei Punkte möchte ich dabei freilich vorausschicken. Erstens, dass ich die folgenden Ausführungen als völlig wertfrei betrachte. Ich will damit niemanden angreifen. Es geht mir nur um Fakten, nicht um irgendeine persönliche Meinung. Im Grunde referiere ich nur den Stand der Literaturwissenschaften. Man kann das z.B. in Alexander Beinlichs “Lesen – Ein Handbuch” in den Abschnitten “Zu einer Typologie des Lesers” gern nachprüfen.
Zweitens schicke ich aber voraus, dass ich die folgenden Ausführungen zur Lesefähigkeit deshalb für notwendig halte, weil ich immer wieder erlebe, dass in Gesprächen, Diskussionen und vor allem auch in diversen Internetforen ziemlich viel durcheinander geht und mir oftmals gar keine Kriterien zur Beurteilung von Texten zu existieren scheinen.
Da outet sich der eine mit Aussagen wie: er lese schon lange nicht mehr und warte allenfalls auf die Rente, um es vielleicht mal wieder zu versuchen, ob er dann aber Romane lesen würde, das wage er doch zu bezweifeln. Der nächste Gesprächsteilnehmer teilt mit, dass er eigentlich nur seine berufsbedingte Lektüre zu Steuerfragen liest, ein Dritter bezeichnet jede etwas anspruchsvollere Literatur, die über das Niveau eines Thrillers hinausgeht, als langweilige Lobgesänge auf Gänseblümchen usw. Und Gedichte? Ach, schweig stille mein Herz. (Ich zitiert natürlich aus dem Gedächtnis! Aber ich verfälsche nicht, und ich bin sicher, dass man sich darin wiedererkennen wird.)
Nun, das wäre alles kein Problem, wenn sich nicht trotzdem JEDER, absolut JEDER ein Urteil über Literatur anmaßen würde. Das schöne kleine Beispiel auf dem obigen Bild, auf dem jemand es für nötig hielt, in seinem Dostojevskij Exemplar handschriftlich zu vermerken: „nicht gelesen, unangenehm und langweilig.“ ist keine Absurdität sondern absoluter Alltag, wenn es um Stellungnahmen zur Literatur geht. * Dieser Leser wäre niemals darauf gekommen zu sagen, das hab ich nicht gelesen, also kann ich kein Urteil fällen. Und schon gar nicht wäre er darauf gekommen, dass seine Lesefähigkeit dafür vielleicht gar nicht ausreicht.
Ich bin hingegen sicher, dass die Fähigkeit Texte zu erfassen unter der Leserschaft so unterschiedlich verteilt ist wie die deutsche Gebirgslandschaft. Oder anders gesagt, der ‚Kahle Asten‘ und das ‚Matterhorn‘ sind beides Berge, aber es trennt sie doch ein himmelweiter Unterschied. Ich möchte deshalb hier einige Fakten zum Thema LESEFÄHIGKEIT vorstellen, die es vielleicht gestatten werden, künftig etwas genauer zu differenzieren und vielleicht sogar zu einem anderen Verhalten zu gelangen.
Also, um was geht es? Der Umgang mit Literatur setzt neben der notwendigen Verfügbarkeit der Literatur, die für viele Menschen gar nicht gegeben ist, die Fähigkeit zu lesen voraus. Lesefähig zu sein, heißt zunächst natürlich einfach einmal, die in der Schule erlernte Technik des Lesens zu beherrschen. Dass jemand aber einmal das Lesen gelernt hat, sagt im Grunde noch gar nichts über seine Lesefähigkeit aus. Und vor allem sind grundsätzliches Lesenkönnen und das Lesen von Literatur ganz unterschiedliche Tätigkeiten. Das Lesen von Literatur ist eine andere Art von Tätigkeit als z.B. das Lesen im beruflichen Alltag. Das fängt schon damit an, dass es unter den heutigen Lebens- und Arbeitsverhältnissen eine viel zu große Anstrengung für viele Menschen sein kann, bei einem anspruchsvollen Roman überhaupt durchzuhalten, bei Gedichten, die sich dem schnellen Verständnis entziehen, oder bei einem Essay, dessen Abstraktionsniveau das aktive Mitdenken des Lesers erfordert, sowieso.
Ein solches Lesen hat kaum jemand gelernt. Selbst universitäre Bildung vermittelt diese Art von Lesefähigkeit in der Regel nicht. Das Ergebnis sind überforderte Leser, die das Problem freilich nicht in ihrer fehlenden oder mangelnden Lesefähigkeit sehen sondern stattdessen den jeweiligen Text abwerten. Als langweilig, zu schwer verständlich, uninteressant und immer so weiter. Oder um auf ein bekanntes Sprichwort zurückzugreifen: Die Leute, deren Köpfe in dieser Weise mit einem Buch zusammenstoßen und dann mitkriegen, dass da was hohl klingt, die werden bis an ihr Lebensende abstreiten, dass ihr eigener Kopf die Ursache dafür gewesen sein könnte.
Nun, die Leserforschung hat schon lange versucht, die unterschiedlichen Arten des Lesens zu bestimmen. Das hat interessante Ergebnisse hervorgebracht. Nach der Bestimmung von Hans E. Giehrl gibt es da in der Hauptsache 4 Gruppen, die man unterscheiden sollte.
Giehrl spricht 1. von den “funktional-pragmatischen Lesern”, die die größte Gruppe ausmachen (etwa 80 % ) und zu denen auch die “Nicht-Leser“, die ”lesenden Analphabeten“, deren Lektüre sich auf die Nachrichten der Boulevardblätter beschränkt, und die ”Zweckleser“ gerechnet werden, also die Menschen, die z.B. lediglich aus beruflichen Gründen hin und wieder mal lesen. (Dazu gehören übrigens bis zum Alter von 50 Jahren fast 95% aller Männer!)
Die 2. Gruppe wird von den ”emotional-phantastischen Lesern“ gebildet, also von denen, die Gefühlserlebnisse suchen, die aber auch aus der von ihnen bevorzugten Unterhaltungs- und Trivialliteratur Handlungsmuster in ihre privaten Lebensbereiche übertragen möchten bzw. können, weil diese Art der Literatur, die von Klischees bestimmt und beinahe fabrikmäßig hergestellt wird, nur die Kategorie der Fiktion erfüllt, der Mehrdeutigkeit und sprachlichen Komplexität jedoch ermangelt. Diese Gruppe macht etwa 15 % aller Leser aus und besteht zu über 80% aus Frauen.
Als ”rational-intellektuelle Leser“ werden die Mitglieder der 3. Gruppe eingestuft, die sich durch Lektüre zu geistiger Auseinandersetzung anregen lassen und Lesen als Verstandesarbeit betrachten. Das sind etwa 2 bis 3%.
Der 4. und kleinsten Gruppe gehören die ”literarischen Leser“ an, deren Lektüre zweckfrei aus Liebe zur Literatur und Dichtung geschieht. Etwa 1 bis 2 %.
Wie oben bereits gesagt, diese Typologie ist wertfrei gemeint. Ich finde sie freilich sehr hilfreich, allein schon deshalb, weil sie zeigt, dass die abwertenden Urteile über literarisch anspruchsvollere Text in der Regel zwangsläufig von Lesern stammen (müssen), die über die Fähigkeit zur Beurteilung dieser Texte gar nicht verfügen können.
Andererseits eröffnet sich da jedoch auch eine Möglichkeit, denn diese Zahlen sagen mir ja, dass ich das Lesen von Texten, die mir bisher widerstanden haben, lernen kann. Wenn ich etwa bisher ausschließlich als emotional-phantastischer Leser unterwegs gewesen bin, von Harry Potter bis zur letzten Vampir-Romanze alles verschlungen habe, was der Markt mir vorgelegt hat, dann könnte ich vielleicht begreifen, dass es noch ganz etwas anderes gibt, an das ich noch nicht heranreiche. Und wenn ich das ändern will, dann kann ich das tun.
Das erfordert freilich Arbeit, denn man gewinnt keine Lesefähigkeit ohne die notwendige Übung. Niemals wurde jemand mit der Fähigkeit, Proust, Joyce oder Lezama Lima (um nur drei Autoren aus der klassischen literarischen Moderne des 20. Jahrhunderts zu nennen) zu lesen geboren. Diese Fähigkeit muss man in der Auseinandersetzung mit den Texten erst erwerben. Und wer das auf sich nimmt, der wird unter Umständen eine ganz neue Welt entdecken bzw. doch zumindest neue Kontinente. Schlicht, er könnte feststellen, dass es sich verdammt nochmal lohnt!
Aber da ich bekanntlich Skeptiker bin, so gehe ich nicht davon aus, dass sich jemand diese Mühe machen wird. Auch zur Zeit des Kolumbus wollten ja nicht alle Menschen neue Länder entdecken. Allen außer Kolumbus reichten ja die alten Länder vollauf, und er musste lange Klinken putzen, bis ihn jemand zumindest halbherzig unterstützt hat.
Oder wie Anton Cechov mal sagte: ‚Die Leute fliegen nicht zum Mond. Die Leute gehen abends nach Hause, zanken sich mit ihrer Frau und essen Suppe.‘
Also könnte man es dabei belassen. Wenn diese Suppevertilger nicht ständig ihre Meinungen über die Mondflieger absondern würden!
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* Ich fand den obigen Dostojevskij-Band in einer Bücherkiste am Straßenrand, wo Bücher abgegeben werden können, die Leute für überflüssig halten oder aus anderen Gründen loswerden wollen.