Schmorell Lesung und Gonzales Schattenspiele
Wiesbaden, Mittwoch, 25. Oktober 2017, im Sonnenschein, mit Piano-Stücken von Gonzales
Die gestrige Lesung der Liebsten war so gut besucht, dass der Buchhändler noch zusätzliche Stühle und eine Bank herbeischleppen musste. Der Büchertisch wurde fast ausverkauft.
Doch war es nicht das, was uns noch heute am Morgen danach so erstaunt sein lässt. Das liegt vielmehr an der höchst intensiven Atmosphäre, die während der Lesung selbst aber vor allem auch dann in der Diskussion danach herrschte. Es gab viele Fragen, die Jutta Schubert zu beantworten hatte, sie ist ja inzwischen fast so etwas wie eine Zeitzeugin in Sachen der „Weißen Rose“ geworden. Und die Zuhörer bedankten sich bei ihr hernach sogar persönlich, als sie Bücher signierte.
Nun ist die kleine Lesereise zum 100. Geburtstag von Alexander Schmorell, die sie rund um die Buchmesse absolviert hat, erstmal beendet. Jeder Lesungsort war besonders, vor allem auch auf der Buchmesse selbst, wo sie Gast am russischen Stand war, aber auch im schönen Weingarten, zu der das Studentenwerk Weiße Rose e.V. geladen hatte, und auf der Veranstaltung der Caliban Literaturwerkstatt in Wiesbaden; aber die gestrige Lesung in der Buchhandlung von Andreas Dieterle war doch ein Höhepunkt der kleinen Lesetour.
Für die Musik, die ich heute während der Morgenarbeit höre, griff ich einfach wahllos in das Jazz-Regal. Ich hatte seit Tagen wieder viel älteren Jazz gehört, zum Beispiel so um die zwanzig CDs von Coleman Hawkins, dann Charlie Haden, heute begann ich mit Benny Goodman, weil ich dachte, dass der Swing mir gut tun würde. Aber dem war nicht so, ich hatte es schon geahnt, denn ich hasse ja eigentlich diesen auftrumpfenden weißen Bigband Stil. Also wieder raus damit aus dem CD-Player und blind irgendwo ins Regal gegriffen, was dazu führte, dass ich auf die wunderbaren minimalistischen Solo Piano Stücke von Gonzales stieß, die ich sicher zwei, drei Jahre nicht mehr angehört hatte. Ich legte sie auf und war gleich wieder ganz hingerissen, weil ich mich schon mit der ersten Nummer, die den Titel „Gogol“ trägt, an die leichte, fließende Weise erinnerte, mit der Gonzales seine Musik erzählt. Ja, erzählt. Er ist ein Erzähler am Klavier.
Und dann zeigte sich doch einmal mehr, dass es wohl keine Zufälle gibt, denn ich schlug das kleine Booklet auf, das der CD beigegeben ist und entdeckte ein Faltblatt mit Zeichnungen, die Schattenspiele zeigen. Ich sah mir das an und dachte, wie erstaunlich es doch ist, dass der Mensch seine Hände nimmt und damit Schatten wirft, die was ergeben? Tiere, allesamt Tiere. Ist unser Schatten vielleicht tatsächlich ein Tier?
In meiner Lektüre von Bruce Chatwins „Traumpfade“ hatte ich in den letzten Tagen gelesen, wie ungeheuer geschickt die Ureinwohner in Australien Tiere nachahmen bzw. darzustellen verstehen. Die sogenannten Ahnen der Aborigines sind allesamt mythische Tierwesen, die in der Traumzeit über den Kontinent wanderten, und wenn sie sie darstellen, dann verwandelt sich ihr ganzer Körper, als flösse die Gestalt des Tieres in ihn ein.
Ob unsere harmlosen Schattenspiele, mit denen wir manchmal noch kleine Kinder verblüffen, vielleicht am Ende nur die rudimentären Überbleibsel einer einstmals perfekt beherrschten Kunst der Mimikry sind? Ist es das, wovon all die Horrorgeschichten über Gestaltwandler, deren literarischer Urvater Ovid ist, immer noch zu erzählen versuchen? Ist es das tief verborgene Wissen um unsere Nähe zum Tier und die immer gegebene Möglichkeit der Verwandlung?
Und natürlich dachte ich auch an das Gedicht „Ich singe den Schatten“, das ich erst vor einigen Tagen schrieb. Es geht so:
Ich singe den Schatten
Den Schatten singe ich, den Ihr
unter Eure Füße tretet; den meinen auch.
Die Tränen und die Lügen, Versagen und
Verrat, Angst, Trauer, Depression,
alles entdeckt seinen wahren Namen,
wenn ich für Euch singe.
Den Dieb in der Nacht singe ich, der
ins Licht gezerrt, das Antlitz eines Sohnes
zeigt. Ich singe das, was lebenslang
Euch schon den Mund verschließt
und in den Kummer treibt.
Ich sing den Schatten, den Sack
voll Asche, den Ihr mit Euch schleppt.
Meine braven Kinder verleugnen mich.
Sie fürchten, dass die alte Krähe
an ihren blassen Augen
den gelben Schnabel wetzt.
Selbst meine Freunde lästern: Er ist nicht
mehr modern. Und das ist wahr. Ich bin uralt,
wie das Reptil, das sich in Eurem Hirn
versteckt, Blut säuft und die Krallen fetzt
in Schlamm und weichem Fleisch.
Alt wie die Wurzeln der Esche,
die tief in Dunkelheit und Tod
nach Nahrung gräbt, von der Ihr
nicht wissen wollt. Ihr Verkäufer der
blanken, jungen Blätter hoch im Licht.
Doch ich befreie die Sklaven unter der Borke
Eures Charakters von ihren Fesseln.
Die grauen Träume aus verschwitzten Betten
häng ich für Euch in neuen Wind.
Ihr fragt warum? Ich weiß es nicht.
Der, der den Schatten singt, ist
ein alter Sänger, der sich nicht erklärt.
Ich weiß nur, dass er singend weint
um jenes ferne Kind, das
man in uns erschlug.
Machen Sie doch mal eine kleine Übung, quasi so eine Art Schattenspiel mit sich selbst. Überlegen Sie mal, was für ein Tier sie wären, wenn Sie einen Schatten würfen und das Ergebnis das Abbild eines Tieres wäre, was käme da heraus? Vielleicht eine Ziege? Ich kenne jemanden, der wäre als Tier auf jeden Fall ein Elefant, eine Spinne kenne ich auch, außerdem fällt mir jetzt ein ewig plappernder Vogel ein und … ach, lassen wir das.
Genießen Sie noch die Sonne. Ich wünsche Ihnen,
dass Sie keinen zu grausigen Schatten werfen
Ihr PHG