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Der Liebsten Lesung und eine Erinnerung an Australien

Wiesbaden, Dienstag, den 24. Oktober 2017, unter Begleitung von Charlie Hadens unvergleichlichen
"Montreal Tapes", mit Paul Motian, Gonzalo Rubalcaba, Paul Bley, Don Cherry and Ed Blackwell. Mein
Leben wäre ärmer ohne all diese Kerle.

Kam  gestern noch spät zurück, weil ich heute in Wiesbaden sein will, um bei der Lesung meiner Liebsten am Abend dabei sein zu können. Ihr Roman „Zu blau der Himmel im Februar“ fesselt mich zudem noch immer.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Anlässlich des 100. Geburtstages des Widerstandskämpfers Alexander Schmorell ist diese überarbeitete Neuauflage erschienen, die die Liebste in einer Reihe von öffentlichen Lesungen vorgestellt hat. Die in diesem Jahr vorerst letzte findet heute in der Buchecke Schierstein statt.

Seit Tagen erlebe ich, wohin einen die Erinnerung treibt – zu anderen Erinnerungen nämlich. Während ich damit beschäftigt war, den Anfang für einen zu schreibenden Essay zu finden, erinnerte ich mich an eine Geschichte, die ich in dem Buch „The Songlines“ zu Deutsch „Traumpfade“ von Bruce Chatwin gelesen zu haben meinte. Nun ist es so, dass meine Lektüre des Buches etwa zu Beginn der 1990er Jahre stattgefunden hatte, auf jeden Fall relativ kurz, nachdem ich sein „In Patagonien – Reise in ein fernes Land“ gelesen hatte; das war Ende der 80er. Meine Erinnerung kann also nach menschlichem Ermessen durchaus falsch sein, aber da ich ein bildhaftes Gedächtnis habe und meinem Gehirn in der Regel vertraue, so tat ich es auch jetzt. Ich zog also das Buch aus dem Regal und begann zu lesen, traf dabei auch sofort auf die Figur des Arkady Volchok, mit der die Geschichte, an die ich mich erinnert hatte, zusammenhing, was mich bestätigte. Seither lese ich jeden Morgen, noch vor dem Frühstück, eine halbe bis eine dreiviertel Stunde, bin inzwischen auf der Seite 200 angelangt, habe aber die Textstelle, um die es mir geht, nach wie vor nicht gefunden, kann sie also auch im Essay nicht zitieren, da ich sie nicht zweifelsfrei belegen kann.

Ich glaube aber noch immer, dass mir mein Gedächtnis keinen Streich gespielt hat. Zudem muss ich gestehen, dass ich über Chatwins Buch bei der erneuten Lektüre erstaunt bin. Ich hatte es gewissermaßen viel allgemeiner in Erinnerung, dabei besticht es durch eine solche Fülle an konkreten, sinnlichen Details, dass man es beinahe als Lehrbuch zum Thema Beschreiben benutzen könnte. Von wissenschaftlichem Wert zum Thema der Songlines, wofür ich es in Erinnerung an meine Erstlektüre immer empfohlen hatte, erbringt es allerdings, wie ich jetzt sehe, weniger.

Dafür ist es sehr fesselnd geschrieben, leistet also das, was ein Fachbuch wohl nie in dieser Weise könnte. Vermutlich war es das, was die Herausgeber der späteren deutschen Ausgabe dazu veranlasst hat, das Buch unter der Bezeichnung Roman zu verkaufen. Die englische Originalausgabe trägt hingegen gar keine Genre-Bezeichnung, weshalb man es wohl auch eher als  Reisebericht rezipiert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Buch ist geeignet, die Vorstellungen, die man möglicherweise von Australien hat, vollständig umzuwälzen. Deshalb möchte ich es dringend zur Lektüre empfehlen, wobei es naturgemäß schwer ist, etwas umzuwälzen, was man vielleicht gar nicht hat, also eine Vorstellung von Australien, abgesehen von den Bildern des Ayers Rock in den Reiseprospekten.

Während ich nach meiner heutigen Lektüre das Buch zuklappte und noch einen Moment saß, um über das Gelesene nachzudenken, kam mir eine zweite Erinnerung. Eine Erinnerung an eine Frau, der ich etwa Anfang der 70ger begegnet war. Also zu der Zeit, als wir alle noch in unseren luftigen Zwanzigern herumirrten und glaubten, nichts sei einfacher als das Leben. Ich bin ganz sicher, dass ich seit 50 Jahren nicht mehr an sie gedacht habe. Und heute, vor dem Frühstück noch, während ich der Musik und unfreiwillig auch dem bereits hinter dem Haus jaulenden Rasenmäher lauschte, war sie plötzlich da.

Ihren Namen weiß ich nicht mehr, doch sie war die Freundin eines meiner Brüder, der sie zu einer Party mitbrachte. Nennen wir sie Moira, einfach weil eine Gestalt ohne Namen auch keine Geschichte und damit kein Schicksal haben kann. Moira hatte beides, doch wusste ich davon vorerst noch nichts. Was ich jedoch sofort wusste, das war, dass Moira die schönste Frau war, die ich in meinem Leben jemals gesehen hatte; und das ist bis heute so geblieben. Wirkliche Schönheit ist ja eigentlich nur sehr schwer zu beschreiben, und ich will es auch gar nicht versuchen, aber Moiras ganze Erscheinung und vor allem ihr Gesicht war von einer Art, dass man sie nur noch anschauen wollte. Ich war fast unfähig, sie nicht anzuschauen. Und ich wäre bereit gewesen, an ihrer Seite zu verhungern, wenn ich dafür das Privileg empfangen hätte, sie unentwegt zu sehen. Es war peinigend für mich, sie nicht anzuschauen.

Moiras Schönheit war das eine. Das andere war, dass sie abgrundtief unglücklich war. Aus diesem Grund flog sie fünf, sechsmal im Jahr nach Australien, wie sie mir später erzählte. Ihr Vater war sehr reich, ein Hersteller von Kosmetika, Parfüms etc., wie mir in diesem Moment wieder einfällt, und er besaß an Australiens Küsten große Ländereien. Dorthin flog sie alle paar Wochen, wenn es ihr besonders schlecht ging, um sich ganz allein an kilometerlangen Sandstränden und in einem Haus aufzuhalten, das der Familie gehörte. Es ging ihr dabei einzig darum, dass sie, abgesehen von den Bediensteten im Haus, keine Menschen traf, vor allem niemanden, der sie aus Deutschland kannte.

Ich traf mich einige Zeit hindurch mit ihr, sodass ich auch erfuhr, was die Ursache ihres Unglücks war. Aber davon will ich nicht erzählen. Vielmehr davon, dass ich sie, der vielen Reisen wegen, als Fach(frau)mann für Australien betrachtete. Meine Eltern hatten, Ende der 50ger Jahre mit der Familie nach Australien auswandern wollen, die Absicht wurde nicht umgesetzt, doch blieb Australien hernach für lange Zeit ein Sehnsuchtsland für mich. Und nun war da Moira, die so oft nach Australien reiste, wie andere nach Scharbeutz oder Timmendorf, da musste sie doch ungeheuer viel über das Land wissen.

Aber dem war nicht so. Wenn die Schönheit anderer Menschen angesichts von Moiras Schönheit allenfalls der Schönheit zaghafter Anfang war, dann war Moiras Wissen über Australien gar nichts, nicht einmal der aller zaghafteste Anfang. Im Grunde wusste Moira von Australien nur den Namen des Sonnenöls, das sie bevorzugt, und das es angeblich nur dort gab. Mitunter flog sie nur deshalb dorthin, um neues Sonnenöl zu kaufen. Was würde sie heute tun, denke ich, angesichts einer Welt, in der sie alles online mit ein paar Klicks kaufen könnte? Das setzte freilich voraus, dass sie noch lebt und ihr Unglück überlebt hat. Aber falls dem so wäre, so braucht sie das Sonnenöl sicher nicht mehr.

Entschuldigen Sie diese lange Abschweifung. Ich wollte Ihnen eigentlich nur Bruce Chatwins „Traumpfade“ empfehlen. Damals hätte ich es Moira empfehlen müssen, aber als ich Moira traf, da war es noch nicht geschrieben.

Unsere Wege durch die Raum-Zeit sind einzigartig. Jeder dieser Wege kann nur einmal gegangen werden. Ich wünsche Ihnen, dass der Ihre Sie nicht unglücklich macht. Falls doch, so gehen Sie ihn trotzdem. Bleiben Sie hartnäckig.

Ganz herzlich
Ihr PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker