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Leben im Vorgefundenen

Venedig, Dienstag, 19. September 2017, bei Olivier Messiaens Turangalîla-Symphonie für Klavier,
Ondes Martenot und großem Orchester unter Simon Rattle
„Sie müssen“, sagte Le Duchesse, „an Ihre Jugend anknüpfen.
Es ist Zeit. Sie müssen zu Ihren frühen Träumen zurück.
Schieben Sie mal Ihren ganzen Kram … beiseite und schauen
nach, wer immer noch darunter schläft.“
Alban Nikolai Herbst: Die Fenster von Sainte Chapelle

Mitunter ist man auf Wegen unterwegs, von denen man zwar jeden Schritt bewusst – wie man gern glaubt – gegangen sein mag, gar vorsätzlich gewählt hat, und doch kann es geschehen, dass man irgendwann entdeckt, wie sich mitten darin ein ganz anderer Weg eingeschrieben hat, als sei während des Gehens, dem tagtäglichen, zugleich auch noch ein anderer Wille am Werk gewesen.

Und froh kann man sein, wenn man es überhaupt bemerkt. So ging es mir in der letzten Nacht, als ich vor dem Zubettgehen noch für ein knappes Stündchen meine Philosophielektüre betrieb. Vor einigen Wochen habe ich da, nach Jahren, wieder einmal Heideggers „Sein und Zeit“ neu begonnen, vordergründig wohl deshalb, so sagte ich mir zumindest, weil ich in der ganzen Debatte um die „Schwarzen Hefte“ und ihren so offenkundigen Antisemitismus im Hauptwerk nachsehen wollte, wie und ob das in der Begrifflichkeit seiner Ontologie, seiner Analyse von Dasein und Existenz angelegt ist.

Das muss doch ganz unvermeidlich so sein, dachte ich. Nun, um das bisherigen Ergebnis vorwegzunehmen, ich fand solch ein oberflächliches Ergebnis bisher nicht. Was ich jedoch fand, das war eine Erkenntnis, die mein ganzes Leben betraf und betrifft.

Es ist nicht ganz leicht zu erklären, da man dafür eine Winzigkeit Philosophie verstehen muss, aber ich versuche es mal ganz grob ausgedrückt: Vor Martin Heidegger sind die  Welt und die Menschen gewissermaßen getrennt bzw. werden von den Philosophen getrennt gedacht. Descartes war in dieser Hinsicht sehr bestimmend. Da war einerseits die Welt der Dinge, die Objekte, andererseits war da der Mensch, das erkennende Subjekt, das dieser Dingwelt gegenüberstand und Zugang zu ihr suchte, sie zu begreifen, zu erkennen unternahm. Geist oder erkennendes Bewusstsein auf der einen und die objektive Welt auf der anderen Seite werden also als voneinander isoliert vorgestellt. Und da stellt sich dann natürlich die Frage, was das menschliche Erkenntnisvermögen überhaupt von der großen Welt der Dinge wissen, erfassen, begreifen, erkennen kann.

Gut, das ist aber nun falsch, sagt Heidegger in seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“, denn das Dasein des Menschen ist in Wahrheit nichts Isoliertes. Hier liegt ein Denkfehler vor, sagt er. Wir alle sind nie getrennt sondern finden uns immer schon in einer Welt vor, von allem Anfang an. Wir sind über tausend Dinge so sehr mit der Welt verbunden, unser Dasein ist so sehr davon bestimmt – über unser Geschlecht ebenso wie über die Kultur, in die wir hineingeboren wurden, über unsere Sprache usw. – dass wir uns davon gar nichts aussuchen können. Wir sind so sehr an die Welt, in der wir sind, ausgeliefert, dass Heidegger dafür den, wie ich finde, überaus treffenden Begriff der „Geworfenheit“ benutzt. Wir sind, sagt er, ins Dasein geworfen, in unsere Existenz hineingeworfen.

Dagegen ist nichts zu tun. Und jetzt kommt der Punkt meiner gestrigen – ich nenne es mal – Erkenntnis. Denn entscheidend ist, dass das fast allen Menschen komplett egal ist. Es juckt niemanden. Man lebt eben, man lebt so wie man halt (geworfen worden) ist. Man lebt so wie man ist, lebt dort, wo man ist und fertig.

Man lebt eben so, wie man es vorgefunden hat. Kaum jemandem wird das zur Frage. Warum auch, gell? Klar, man versucht, sein Leben irgendwie zu verbessern, zu optimieren, mehr Kohle zu machen, bemüht sich um eine Beförderung, vielleicht um eine jüngere Frau, eine neue Schrankwand, Couchgarnitur, das nächste Handy usw., aber ansonsten ist alles okay. Bei mir war das immer anders, bei mir hat das Geworfensein nicht geklappt. Ich bin in gewisser Weise wie ein Transsexueller, der merkt, dass er zwar offiziell Männlein oder Weiblein zu sein scheint, aber für sich selbst spürt, dass er das Gegenteil ist.

Nun bin ich zwar in sexueller Hinsicht ohne Probleme in die Welt geworfen worden und bin froh, dass das so ist. Aber ich habe im Grunde ein weit größeres Problem, denn ich habe sehr früh im Leben erkennen müssen, dass die Welt, in der ich lebte, nicht die Wahrheit war, zumindest nicht die vollständige Wahrheit.

Heidegger nennt das, was die meisten Menschen tun, dieses ‚Man lebt so wie man ist, dort, wo man ist‘, das „In-der Welt-sein“ (ja, genau so mit diesen Bindestrichen). Und dieses „In-der-Welt-sein“ war bei mir von Anfang an gestört. Es begann vermutlich schon damit, dass ich weitgehend von meiner Großmutter aufgezogen worden bin. Ganz gewiss aber, als wir in Dortmund in die Stahlwerkstraße zogen – da muss ich etwa vier Jahre alt gewesen sein – und beim Löcher buddeln im Hinterhof die gerade erst zugeschütteten Kriegstrümmer der Kellergeschosse vorher hier stehender Häuser ausgrub. Da begriff ich, so jung ich noch war, dass es vor der Welt, in der ich lebte, eine andere Welt gegeben haben musste, deren Reste zwar noch da waren, aber verschwiegen wurden. In meinem Essay „Das Gewicht der Zeit“ habe ich diese Kindheitsereignisse ausführlicher erzählt.

Und endgültig zerstört wurde mein „In-der-Welt-sein“, als ich als Jugendlicher in Amsterdam mitten auf der Straße von einer alten Frau als Deutscher beschimpft wurde.

Nun, schön und gut, oder halt schlecht. Letztlich hat mich dieses so gestörte „In-der-Welt-sein“ zum Schriftsteller werden lassen. Ein sich Einrichten war mir nicht möglich. Also erlebte und lebe ich eine andere Geworfenheit, nachdem die erste nicht geklappt hatte. Aber der Punkt ist natürlich, dass ich im Grunde bis gestern nicht begriffen hatte, dass es den Menschen um mich her, schietegal ist. Ich hatte angenommen, dass sie die Leichenberge, auf denen sie ihr Leben aufgebaut hatten, doch ebenfalls sehen und verabscheuen müssten. Und ich war ihnen immer böse gewesen, dass es ihnen so nicht erging.

Erst gestern habe ich durch meine erneute Heidegger-Lektüre begriffen, dass das ihr „In-der Welt-sein“ ist. Sie leben einfach dort, wo sie sind, mit dem was sie vorfinden, sich selbst und in ihrer Umwelt. Es ist ihnen völlig egal. Und das ist normal.

Okay, da sehen Sie wohin philosophische Lektüre führt. Lassen Sie das lieber bleiben. So, und ich gehe jetzt etwas Suppe kochen, wenn meine Liebste spät am Abend aus dem Unterricht an der Schauspielschule kommt, dann wird sie sich darauf schon freuen.

Bleiben Sie glücklich, wünscht Ihnen
Ihr PHG

PS: Warum ich für diesen BLOG ein Zitat aus der Novelle „Die Fenster von Sainte Chapelle“ gewählt habe? Das müssen Sie selbst herausfinden, und es hat nur am Rande damit zu tun, dass ich erst vor wenigen Wochen selbst in dieser Kapelle war, deren Fenster wirklich beeindruckend sind. Lesen Sie! Lesen Sie! – wie mal einem alten Kirchenheiligen zugerufen wurde.

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker