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Das Leben als Abwehrmaßnahme gegen die Entropie

Wiesbaden, Donnerstag, 17. August 2017, bei 'Crossing Roots - Guitar Duo Meets Karnatak'

Wenn man am Morgen den Eindruck hat, in einem Film mit dem Titel „Planet der Schwachsinnigen“ erwacht zu sein, dann hilft es, einfach das Radio auszuschalten. Wir taten das, nachdem die Liebste zwischen zwei Happen von ihrem Frühstücksei plötzlich fragte: „Ob der Typ mit seinem La la la nochmal fertig wird?“ Er wurde es, zwar erst eine ganze Minute später, aber das war nicht so schlimm wie der Umstand, dass sein singender Nachfolger uns mit einem permanenten „Hu, hu, hu!“ zu beglücken versuchte. Es gelang ihm nicht,  wir beendeten lieber das, was mit dem Begriff Musik gänzlich übertrieben beschrieben wäre. Freilich mussten wir dadurch auch auf die Nachrichten verzichten. Kein Vorteil ohne Nachteil.

Ich fragte mich gerade, ob irgendwo in diesem ganzen Durcheinander der Welt wenigstens der Schatten eines Sinns existiere, als die Parade der Müllabfuhr anrückte, sodass wir mehrfach die Fenster schließen mussten. Als zwanzig Minuten später der letzte Müllwagen durch war und wir die Fenster wieder hätten öffnen können, da kamen auch bereits die Rasenmäher, Laubbläser, Heckenschneider und was der ganzen Horde der Attentäter mehr sind, die mir jeden Tag die Schreibarbeit unmöglich zu machen versuchen. Ich weiß, sie werden erst am späteren Nachmittag mit ihren schlecht bezahlten Jobs fertig werden – dann, wenn ich es aufgegeben haben werde.

Deep Space Aufnahme des Hubble Teleskops
Notre Dame de Paris – Rosace sud

Fluchtreflexe. Wie soll Literatur entstehen, wenn die Arbeit daran von ständigen Fluchtreflexen begleitet ist? Wie soll aus und trotz des endlosen Wirrwarrs des Daseins ein geplantes, geordnetes Ganzes entstehen, das man zuvor nur im Kopf gehabt hat, in der Imagination entwickelt hat, es dann Jahre hindurch dort, auf dieser unsichtbaren Ebene der Vorstellungskraft, präsent halten musste, während man versuchte, es Stück für Stück, Wort für Wort, auf dem Papier in die Realität treten zu lassen, während restlos alle um einen herum permanent damit beschäftigt sind, einem auf die Hände zu treten, die Ohren mit Lärm zu durchpusten, den Kopf mit ihren Nichtigkeiten zu füllen und … ach, egal. Der Satz ist eh schon zu lang geworden.

Sie wissen hoffentlich, dass ich hier nicht sitze, um mich zu beklagen. So wichtig nehme ich die Welt nicht, dass ich über sie klagen würde. Ich schreibe mich erstens nur warm, damit ich nachher an meinen eigentlichen Text gehen kann. Und zweitens benutze ich für dieses Warmschreiben mein frei assoziierendes Hirn, dessen Themen ich dann einfach folge. Mehr ist es nicht. Um also zum Thema zurück zu kommen: Im Grunde steckt dahinter natürlich ein Naturgesetz. Die Entropie. Googlen Sie mal unter ‚2. Hauptsatz Thermodynamik‘. Wenn man sie, die Entropie,  mal etwas schlicht als Maß für die Unordnung eines Systems nimmt und weiß, dass die Unordnung in der Regel immer zunimmt, dann weiß man auch, dass man sich in einem aussichtslosen Kampf befindet. Man versucht Ordnung zu schaffen, inmitten der allgemeinen Unordnung, die gar nicht anders kann, als permanent anzuwachsen.

Und jetzt führen Sie sich bitte mal für ein paar Sekunden, nur Sekunden, vor Augen, was für ein ungeheures Wunder es ist, was der menschliche Geist dieser allgemeinen Unordnung immer wieder abgewonnen hat. All die Kunstwerke, all die Wörter, also die Literatur, all die Bilder, Bauwerke, all die Musik usw., die der Welt, in der wir leben, einen Sinn, eine Bedeutung gegeben haben. Schauen Sie sich von mir aus die Rose im südlichen Glasfenster von Notre Dame in Paris an – die Liebste und ich werden in diesem Jahr noch aufbrechen, um alle französischen Kathedralen anzuschauen. Schauen Sie sich dieses Fenster an, und wenn Sie dann nicht vor Ehrfurcht und Bewunderung erbeben, dann ist nach Ihrer Geburt vielleicht irgendwas verloren gegangen.

Egal, wen juckts. Ich will nur sagen, dass die menschliche Kultur ein Wunder ist. Aber das braucht es für Sie nicht zu sein. Man kann ja auch Jahrtausende alte Statuen einfach in die Luft sprengen, geht auch. Aber selbst da ist nicht der Sprengstoff das Problem, denn der Kulturverlust beginnt ja lange vorher in den Köpfen.

Ach, ein Wort zum Schluss. Die Musik, die ich während des Schreibens momentan höre, die habe ich vor etwa 17 Jahren mal von meinem Lieblingsbruder geschenkt bekommen. Sie befindet sich auf solchen alten Cassetten:

Vermutlich benutzten Sie die früher auch mal und haben sie längst weggeworfen, ach, man sagt ja ‚entsorgt‘, obwohl man gar nicht weiß, wer dadurch jetzt weniger und wer mehr Sorgen hat. Ich besitze davon noch einige Hundert, und ich werde sie behalten, um sie zu genießen. Erst wenn ich so in zehn, zwanzig Jahren tot bin, erst dann werden auch ihre Stunden gezählt sein.

Bis dahin, vermehren Sie die Entropie nicht
und bleiben Sie glücklich

wünscht Ihnen Ihr PHG

 

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker