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Das 20. Jahrhundert hören

Wiesbaden, Donnerstag, 27. Juli 2017, bei "La Péri" Dance poem for orchestra von Paul Dukas,
unter Ansermet in einer Aufnahme von 1954

Erwachte kurz nach sechs in der Frühe, jemand war mir im Traum gestorben, und ich vermochte nicht mal die Augen zu öffnen, so verkleistert waren sie. Saß, nachdem ich zur Toilette gegangen war, lange auf dem Bett, bei weit geöffnetem Fenster, um die regengeschwängerte Morgenluft einzulassen, trank etwas Wasser. Vielleicht sollte ich es aufschreiben, dachte ich, ließ es dann. Schweigen ist meist besser.

Ich entwickle mich im Alter immer mehr zu einem Nachfolger meines Großvaters mütterlicherseits, der eine Art Dorfzauberer war, ein Spökenkieker, wie man im Holsteinischen sagt. Kennengelernt habe ich ihn nie, aber vermutlich sitzt er mir in den Genen. Da ist nichts zu machen. Aber das Schweigen ist meist besser.

Von Hiddensee habe ich mir einen Sanddorn-Zweig mitgebracht, der nun im Wasser steht und Wurzeln zu entwickeln beginnt. Es ist schön zu sehen, dass sich das Leben so robust durchsetzt. Der Zweig stammt von einer weiblichen Pflanze (ja, es gibt weibliche und männliche Sanddorn-Pflanzen), eine männliche habe ich nicht. Mal sehen, was meine Pflanze tun wird, ob ihr etwas fehlt.

Das Jahr ist jetzt schon so weit fortgeschritten, dass ich überlegt habe, es sei vielleicht klug, für die restlichen Monate ein besonderes Ziel anzustreben. Natürlich eines neben meiner üblichen Tagesarbeit und dem Schreiben am neuen Erzähltext. Eine weitere Reise steht dieses Jahr auch noch an, denn wir wollen die französischen Kathedralen besuchen; ein lang schon gehegter Wunsch.

Was also könnte es sein, was ich mir in diesem Jahr noch erobern kann? Ich habe sogar kurz daran gedacht, wieder mit dem Klavierspiel zu beginnen, zumal ich das Klavier endlich wieder aus dem vollgestellten Nordzimmer der Liebsten befreien müsste. Aber mir fehlt einfach der Platz für ein Klavier in meinem Arbeitszimmer. Ich kann froh sein, dass die so lange verpackten Bücher langsam wieder in die Regale zu sickern beginnen. Buch für Buch haben wir es auch heute wieder so weit gebracht, drei Kisten auszupacken.

Und dann, vielleicht da die Subroutinen meines Gehirns eh schon die ganze Zeit um die Musik kreisten, kam mir der Gedanke, dass ich das Projekt wieder aufnehmen könnte, mit dem ich vor Jahren schon einmal begonnen hatte. Nämlich das Buch von Alex Ross „The Rest ist Noise“ lesen, um die Entwicklung der klassischen Musik im 20. Jahrhundert nachzuvollziehen. Und das heißt natürlich, all die Musikbeispiele, die Ross in seinem grandiosen Buch behandelt, durchhören, analysieren, soweit in meiner Musikbibliothek noch nicht vorhanden, hinzukaufen etc. Am Ende sollte eine repräsentative Musikbibliothek des 20. Jahrhunderts aufgebaut und Ross‘ Werk durchgearbeitet sein.

Das wäre etwas, das mich ungeheuer faszinieren und – ja, ich gebe es zu – auch befriedigen würde. Natürlich höre ich sowieso schon lange sehr viel Musik des 20. Jahrhunderts, auch zeitgenössische Musik unseres 21. Jahrhunderts, zuletzt zu Wochenbeginn dreiviermal „Remembering“ von Mark-Anthony Turnage, der 10 Jahre jünger ist als ich. Aber für mich hat dieses Hören den Mangel, dass ich sehr unsystematisch dabei vorgehe. Mit Hilfe von Ross‘ Buch könnte das anders werden. Drücken Sie mir die Daumen, damit es nicht nur eine Absichtserklärung bleibt.

Es hat wieder zu regnen begonnen, aber ich sitze und schreibe bei offenen Türen, denn es ist nicht kalt. Die Lautsprecher bieten mir die „Petite symphonie concertante“ von Frank Martin, der erst gestorben ist, als ich schon 24 Jahre alt war. Gedacht soll seiner werden.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie jederzeit die Musik Ihres Lebens hören können.
Und werden Sie heute nicht mehr nass.
Ihr PHG

 

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker