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Graue Trauer am Regentag – der Autor als Menschenfresser

Wiesbaden, Mittwoch 28. Juni 2017, bei lauter Arien, von der Callas gesungen, weil sie die einzige ist/war, 
die das ganze Drama in ihrer Stimme hatte und noch immer hat.

Mit langer Verspätung begannen die Dachdecker in der Frühe mit dem Abbau der Gerüste um das Haus. Sehr viel Geräusch, um es gewissermaßen wertfrei zu sagen, riss uns aus dem Schlaf. Dazu ein monströs lautes Telefonieren vor der Tür. Als ich aus dem Fenster schaute, saß da, trotz leichten Nieselregens, ein augenscheinlich nackter barfüßiger Mann unter mir im Eingang, der in einer osteuropäischen Sprache lamentierte. Nun okay, dachte ich, die Welt ändert sich – und zwar schneller, als du, alter Mann, es mitbekommst.

Schon in der Nacht hatte sich die Welt mit einem bösen Ruck vorwärts bewegt, in dem Moment nämlich, kurz vor zwei Uhr, als von L. eine Mail mit der Nachricht kam, dass M. gestorben sei, am Sonntag schon. Bestürzung ist ein unzulängliches Wort, denn sie war noch so jung. Vielleicht irre ich mich, doch ich denke, kaum 35 Jahre dürfte sie auf Erden gewesen sein.  Und zumindest die letzten dreivier davon sehr elend. L. schrieb: „Die Gespenster der Vergangenheit und die Dämonen der Gegenwart haben sie verfolgt.“ Natürlich war es ein Suizid, wie ich gleich gedacht hatte, nachdem wohl schon die letzten Jahre ihres Lebens ein Suizid waren, ein langsamer halt, ein Suizid auf Raten, Schluck für Schluck.

‚Die Gespenster der Vergangenheit‘ sind auch in meinem Roman „Nichts weißt du, mein Bruder, von der Nacht“, den ich Ende April abgeschlossen habe, der Grund für den Selbstmord der ‚Judith‘, die Gespenster und in Judiths Fall die daraus erwachsende Depression. Und das Thema des Buches ist dann die Frage, wie diejenigen damit umzugehen gezwungen sind, die von Judith zurückgelassen werden, ihr Mann und die Familie. Auch M., die sich am Sonntag auf diese Weise verabschiedete, ließ einen Lebenspartner zurück.

Das besonders Beklemmende für mich ist, dass ich der Figur der Judith im Buch einige Charakterzüge von M. gegeben habe; als hätte ich durch einen Riss in der Zeit die Zukunft geschaut. Zwar ist das für normale Leser gleichgültig, denn es geht nur um zweidrei äußerliche Merkmale. Für jemanden, der M. gekannt hat, wären diese Details aber signifikant, ganz unabhängig davon, dass ich ansonsten bei der gesamten Darstellung von Judiths Hintergrundgeschichte zwei andere Frauen vor Augen hatte, die ich in meinem Leben mehr oder weniger gekannt habe, vor weit über 40 Jahren schon.

Man setzt ja Romanfiguren meist aus mehreren Personen zusammen, nimmt von hier und von dort einen Teil, ergänzt das dann um noch etwas anderes, je nach dem, was einem als Autor für den Charakter im Text erforderlich scheint. Ich habe deshalb einmal gesagt, dass Autoren eine Art von Menschenfresser sind. Aber natürlich nimmt man/frisst man niemals eine Figur ganz. Nicht nur, weil sich das verbietet, sondern vor allem, weil sich kein realer Mensch dazu eignen würde, einfach eins zu eins in Literatur übertragen zu werden. Man sucht sich deshalb zusammen, was man braucht, vielleicht aus drei, vier, fünf Personen, die der Autor aus verschiedenen Zusammenhängen kennt, erinnert usw. Und falls jemand dann meint, dass er sich in der Figur eines Buches wiedererkennt, dann erkennt er halt nur dieses Detail wieder, mehr nicht. Die vom Autor gezeichnete Figur besteht aber selbstverständlich aus viel mehr als diesen Details.

Im Falle der Judith, der ich einige Züge von M. gab, handelt es sich z.B. um bestimmte Bekleidungsstücke. Als ich SB vorhin anrief und davon erzählte, meinte sie, ich solle M. das Buch widmen, wenn es veröffentlicht werde. Das könnte ich tatsächlich tun, es wäre sicher angemessen. Andererseits entstünde dadurch die Gefahr, dass der unwissende Leser annehmen könnte, Judith und M. seien identisch, was nicht wünschenswert wäre.

Nun, ich werde es abwarten. Bis es zur Veröffentlichung kommt, wird sich die Welt sicher längst erneut in eine andere Richtung gedreht haben. Und auch nackte Gerüstbauer werden dann nicht mehr auf meiner Treppe sitzen.

Ach, man muss sich abfinden. Wie sagt doch meine Schwiegermutter so gern? ‚Kein Vorteil ohne Nachteil‘. Recht wird sie haben. Ich wünsche Ihnen, dass zumindest das Wetter etwas aufklart.

Naja, und dass Sie glücklich bleiben
Ihr PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker