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Drei Bücher und ein Todesfall

Wiesbaden, Donnerstag, 18. Mai 2017, bei sehr viel Musik von Béla Bartok, jetzt dem Konzert für 
Viola und Orchester, op. posth., unter János Ferencsik

Schwierige Tage. Ein sehr lieber und wichtiger Mensch ist uns gestorben, was schon jetzt Folgen für unser ganzes Leben hat und in Zukunft haben wird, für das meiner Liebsten und auch für das meine.

Kaum zwei Stunden, bevor ich am Sterbebett eintraf, hatte ich zudem mein neues Manuskript an den Verlag geschickt, von wo man mir inzwischen auch den Eingang bestätigte, ohne jedoch auch nur ein Wort dazu zu sagen, warum mein Brasilien-Roman, der bereits zur Leipziger-Frühjahrsmesse hatte auf dem Markt sein sollen, immer noch nicht verfügbar ist. Dass Tote schweigen, ist klar, warum lebende Verleger dies ebenso tun, weniger; vielleicht, weil das Repertoire der Ausreden und Verströstungen inzwischen erschöpft ist?

Nun, alles das bringt sehr viel Trauer in unser gegenwärtiges Leben.

Obige Zeilen schrieb ich bereits vor 12 Tagen, ohne sie hier zu veröffentlichen. Es hat sich seither nichts verändert, abgesehen davon, dass wir zusätzlich die Dachdecker über den Köpfen haben und unsere Kräfte völlig erschöpft sind. Was uns trotzdem weitermachen lässt, das weiß ich an manchen Tagen nicht.

Und nun ist zu allem, in einer Situation, in der ich schon entschlossen war aufzugeben, auch noch ein weiteres Buch hinzugekommen. Besser gesagt, ein Manuskript, denn in einem meiner vielen unruhigen Träume meldete sich vor Tagen gegen Morgen um fünf das Personal meines Romanprojekts „Der Akkordeonspieler“ zurück, um mir mitzuteilen, dass es noch existiert und geschrieben werden will. Als ich der Liebsten davon erzählte, da meinte sie, das ist gut, die wissen halt auch, dass dich nur die Arbeit retten wird.


„Nur die Arbeit wird dich retten.“ Das war die ewig gleiche Antwort, die der Regisseur George Tabori stets parat hatte, mit dem sie vor Jahrzehnten lange gearbeitet hat. Ihre 2014 veröffentlichten Erinnerungen an den großen Theatermacher, den sie sehr bewunderte, erzählen davon. Okay, dachte ich, schauen wir also mal, ob die Arbeit mich retten wird. Wenn sie es nicht kann, dann bin ich wohl unrettbar.

Mit meinem Roman-Manuskript „Der Akkordeonspieler“ hat es eine besondere Bewandtnis, denn es ist ein Buch, das ich der Liebsten 2001 für sie zu schreiben versprach. Ja, so lange ist das her, fürchterlich, nicht wahr. Und sehr nahe an einem gebrochenen Versprechen. 2001 kennen die Menschen, so sie nicht etwas Persönliches damit verbinden, sicher nur noch als das Jahr, das auf 9/11 zulief. Für mich und die Liebste ist es das Jahr, in dem der Tod in mir wuchs und in dem ich dann kurz nach Ostern von einem fußballgroßen Nierenkarzinom entbunden wurde. Das Karzinom, sagen die Mediziner – diese Leute mit dem seltsamen Humor -, das Karzinom ist die Königin der Krankheiten. Diese Königin verließ mich, doch nahm sie meine linke Niere quasi als Lösegeld mit sich. Sie ließ mich völlig arbeitsunfähig zurück, was auch damit zu tun hatte, dass ich über 40 Pfund Gewicht verloren hatte. Und als ich dann wieder einigermaßen ohne fremde Hilfe gehen konnte, da hatte ein Freund zufällig seine kleine Wohnung in Warnemünde für einige Wochen frei. Wir fuhren also ans Meer, wo ich die Tage darauf verwandte, am Strand wieder das Laufen zu üben. Zehn Schritte laufen, zwanzig Schritte gehen, zehn Schritte laufen, zwanzig Schritte gehen, das war in den ersten Tagen der Rhythmus, den ich zuerst fünf, dann zehn Minuten durchhielt. Was glauben Sie, was ich stolz war, als ich bei fünfzehn Minuten ankam und hundert Schritte am Stück zu laufen vermochte!

Nun, egal, ich will Ihnen ja gar nicht von meiner Rekonvaleszenz erzählen, sondern von dem Akkordeonspieler, den die Liebste und ich im Ort und entlang des Hafens Tag für Tag sahen und hörten und über den ich auf unseren Spaziergängen zu phantasieren begann. Will sagen, ich erzählte der Liebsten die Geschichte eines Mannes, den ich nicht kannte, entwarf seine Lebensverstrickungen, entwickelte die Hintergründe, die ihn zum Akkordeonspieler gemacht und hier nach Warnemünde verschlagen hatten. Und, ja und natürlich seine Zukunft. Man will schließlich immer wissen, auf was der ganze Kladderadatsch des Lebens hinauslaufen wird, nicht wahr.

Die Liebste flehte mich während dieser Stadtgänge ständig an „Schreib es auf! Setz dich hin und schreib es auf!“ Was ich natürlich nicht tat und stattdessen voller Überheblichkeit behauptete, dass ich es nicht vergessen würde. Irgendwann nach unserer Abreise holte ich das dann nach. Es entstand ein Manuskript von knapp vierzig Seiten, das ich dann über all die Jahre liegenlassen musste. Ich wusste freilich immer, dass daraus eines Tages noch ein Buch werden würde und, ja auch das, dass es den dritten Teil meiner Familientrilogie bilden sollte.

Nach dem Buch „Das Herz des Hais“, einem Roman über zwei Schwestern, der gewissermaßen den linken Seitenflügel bildet, und dem inzwischen abgeschlossenen Manuskript „Nichts weißt du, mein Bruder, von der Nacht“, dem entsprechenden rechten Seitenflügel, auf dem die Geschichte zweier Brüder erzählt wird, nun also das Mittelstück „Der Akkordeonspieler“; den ich versuchen werde, in diesem Jahr noch abzuschließen, in einer ersten vollständigen Niederschrift freilich nur. Der Erzählstoff und ich werden dann zwei Langzeitüberlebende sein. Noch so eine Mediziner-Metapher.

Und wenn mir das gelingen sollte, so werde ich auch wissen, ob die Arbeit mich gerettet haben wird, wie George Tabori und meine Liebste es behaupten.


So, das soll es für heute mal sein. In dreißig Minuten werden hoffentlich auch die Dachdecker über mir endlich verschwunden sein, die mir seit Stunden den Kopf zunageln. Dann kann ich wieder an meinen Text. Das Gute in solchen Berufen sind ja die Tarifverträge, die auch den sogenannten Feierabend vorschreiben. Während Autoren die Freiheit haben, wenn nötig auch 24 Stunden am Stück zu arbeiten.

Tja, schaun wir mal, wie das Schicksal des Akkordeonspielers sich entwickeln wird. Valentin Brussow heißt er. Und falls Sie mal in eine Situation kommen sollten, in der Sie glauben, dass nichts mehr geht, dann versuchen Sie es halt einfach mal mit Arbeit. Soll Wunder wirken.

Solch ein Wunder wünscht Ihnen
Ihr PHG

 

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker