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Zweimal ‚Domenica delle palme‘

Wiesbaden, Montag, 10. April 2017, bei ganz vielen Sinfonien von Joseph Haydn, immer
noch. Bin jetzt bei den Nummern 16 und 17, aber er hat ja 104 geschrieben, und ich will
sie wenigstens einmal in meinem Leben vollständig gehört haben. (Das sind so Ziele,
die sich Menschen stellen, die ein veraltetes Bildungsideal haben.)

Gestern die Lesung aus dem neuen Roman „Der Mann, der den Regen fotografierte“ im Wiesbadener Kunsthaus. Als mein Verleger Axel Dielmann mit seiner Einführung begann, da bezog er sich doch tatsächlich auf das Datum, also den Palmsonntag, und Jesus‘ Einzug in Jerusalem. Ich musste unwillkürlich denken, dass für Jesus nach diesem Auftritt ja alles den Bach runtergegangen ist. (Entschuldigung, aber wenn ich so allein für mich denke, dann formuliere ich mitunter ziemlich schnodderig.) Immerhin heißt es ja lateinisch Dominica in Palmis de passione Domini, da beginnt also die Passion, der Leidensweg.

Und außerdem war Dielmanns Gedankenverbindung für mich etwas schief geraten, denn Hendrik Cramer, der Held in meinem Roman, kommt erstens nicht in Jerusalem an, sondern in Bethlehem, genauer in Belém, dem portugiesisch-brasilianischen Bethlehem südlich des Amazonas. Zweitens erreicht er die Stadt nicht am Palmsonntag sondern erst am Dienstag nach Ostern. Und drittens ist er fürwahr keine Christus-Gestalt, aber das erübrigt sich eigentlich zu sagen. Nun, ich las dann, und es ist wohl ganz gut geraten.

Eine Besucherin der Lesung schrieb mir hernach eine Mail und meinte: „Ich war total in die Geschichte eingetaucht, sodass ich ein wenig verwirrt zu Hause landete! Auch wenn morgen Montag ist, ist es ein gutes Datum für mich, um mit der Lektüre zu beginnen… bin sehr gespannt! Danke für die unerwartete Reise nach Belém!“

Erst als wir nach der Lesung mit den Freunden aus Mainz im Café saßen, fiel mir ein, dass der Palmsonntag in der Tat für mich eine enorme Bedeutung hat und dass für meinen Hendrik Cramer im Roman wirklich ein Leidensweg beginnt.

Im Jahre 1990 hatte ich zu Palmsonntag in Rom vor der Chiesa di Nostra Signora del Santissimo Sacramento e dei Santi Martiri Canadesi gestanden, in der Via Giovanni Battista de Rossi, und hatte zugesehen, wie die Gläubigen einen dichten Weg aus Palmwedeln bis zum Eingang der Kirche auslegten. Die Kirche der heiligen Canadischen Märtyrer ist ein hässlicher modernistischer Bau, aber die rituellen Handlungen zur Feier des Palmsonntags wirkten so ergreifend auf mich, dass ich hernach quer durch die Stadt zur Engelsburg lief und langsam über die Engelsbrücke ging, um mir die Engel mit den Marterwerkzeugen einzuprägen.

Ich schrieb über diesen Palmsonntag das Gedicht „Engelsburg“, das etwas später von dem deutschen Komponisten Ottfried Büsing vertont und in seine Römische Festival-Musik eingefügt wurde. Irgendwo muss davon sogar noch eine CD in meinem Musik-Archiv existieren.

Das klingt sehr produktiv, doch in Wirklichkeit war ich 1990 kreativ so ziemlich am Ende, und hätte niemals geglaubt, dass es mir irgendwann wieder gelingen könne, ein Buch zu schreiben. Dafür brauchte es solche unmöglichen Dinge wie Gnade und zudem völlig andere Menschen. Die Menschen gab es zwar, doch waren sie damals noch verdammt weit entfernt. Und an Gnade glaubte ich nicht.

Heute, viele Bücher später, weiß ich, dass es Gnade gibt, auch wenn man sie mit einer enormen Geduld, jahrelanger Ausdauer und unentwegter Arbeit erkämpfen muss. Aber ist es nicht allein schon eine Gnade, wenn man arbeiten kann und darf? Und die Menschen, die es braucht, die kommen auch, wenn man sie hereinlässt. Die anderen, die falschen, die schädlich sind, gehen von selbst, wenn man aufhört, an ihnen festzuhalten. Das ist überhaupt eines der Geheimnisse, die ich so schwer begriffen habe. Dass man nämlich selbst verantwortlich ist, für das was einem schadet. Von einigen Menschen muss man sich natürlich ganz bewusst trennen, das ist unerlässlich. Denn wen man mit Guttun nicht für sich gewinnen kann, den muss man sich bekanntlich vom Halse schaffen. Aber ansonsten reicht es, nicht mehr an ihnen festzuhalten, dann verschwinden sie aus dem eigenen Leben.

Und wenn man gelernt hat, die Zeichen im eigenen Leben zu erkennen, dann begreift man, dass sich gestern an Palmsonntag für mich ein Kreis geschlossen hat, ein Weg ist beendet. Ein neuer beginnt. Ja, ein neuer beginnt. Natürlich liegt auf allem das Gewicht der Zeit, aber trotzdem, ein neuer Weg beginnt.

Das wünsche ich mir auch für Sie und
natürlich, dass Sie glücklich bleiben
PHG

 

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker