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Was vom Leben übrigbleibt

Berlin, Montag, 13. Februar 2017, bei der 'Psalmen-Sinfonie' von Igor Strawinsky, 
mit dem Orchestre de la Suisse Romande unter dem Dirigat von Ernest Ansermet

Gestern, während ich mit der Liebsten am Vormittag vor dem Fernseher saß, um die Wahl des neuen Bundespräsidenten anzusehen, kam eine SMS, die uns vom Tod eines Freundes unterrichtete. Seine Frau schrieb uns diese traurige Nachricht. Wir hatten zuletzt von seiner Krebserkrankung erfahren, die jedoch inzwischen überwunden sein sollte; nun war er überraschend an einer Lungenembolie verstorben.

Das war zugleich auch eine Nachricht, die uns an unsere nun schon lange vergangene Stuttgarter Zeit erinnerte. Damals, zu Beginn der 90er Jahre, als die Liebste nach Stuttgart ging, um dort das Kinder- und Jugendtheater mit aufzubauen. Er war in diesem Theater zuständig für die Technik, ein ruhiger, besonnener Arbeiter, der mir vor allem auch deshalb stets imponierte, weil er eine eigenständige Meinung hatte, die er auch vertrat, wenn es nötig war. Ich hatte niemals den Eindruck, dass er jemandem nach dem Munde redete oder halt Ansichten, die gerade in Mode waren, äußerte. Das war mir vom ersten Tag an ihm sehr angenehm. Zudem besaß er Humor, dieses untrügliche Zeichen für eine große Intelligenz.

Hinzu kam, was ich allerdings erst etwas später entdeckte, dass er sich mit Musik auskannte und selbst die Bass-Gitarre spielte. Jemand, der ein Instrument spielt, hat bei mir ja stets einen der vorderen Plätze. Er hat auch sehr gern gekocht, ergänzte meine Liebste, die sich an schmackhafte Aufläufe erinnerte. Sie kannte ihn und seine Frau etwas besser als ich, denn zum einen hatte sie ja über Jahre täglich mit ihm gearbeitet, war auch nach dem Ende des Theaters oft für längere Zeiten in Stuttgart gewesen und hatte ihn dort getroffen. Wir wurden sogar von der selben Zahnärztin behandelt, sodass man sich, auch wenn man sich längere Zeit nicht gesehen hatte, immer mal wieder unvermittelt im Wartezimmer gegenübersaß. Vermutlich waren wir überhaupt nur durch ihre Empfehlung in diese Praxis gekommen, die wir auch zehn Jahre nachdem wir Stuttgart verlassen hatten, immer noch aufsuchten.

Als die Liebste in Stuttgart ihr Stück „Orlando“ inszenierte, ein Schauspiel nach Virginia Woolf, wohnte sie die Probenwochen über bei ihnen. Das war 2008, zwei Jahre nachdem wir nach Wiesbaden umzogen waren. Aus dieser Zeit datierte eine Einladung zu uns, wir wollten gemeinsam kochen etc., die zwar bei jeder neuen Begegnung erneuert wurde, doch niemals eingelöst werden konnte.

Er selbst wechselte den Job, was ihm viel bedeutete, da er in der neuen Stuttgarter Bibliothek Arbeit fand. Ein Umzug ins Remstal fand zudem statt, sodass es jetzt einen Garten gab, dessen Anblick, wie seine Frau schrieb, ihnen beiden in der letzten Zeit viel Freude bereitet hatte. Es kam der Krebs, der aber endlich mit Hoffnung und Zuversicht als überwunden betrachtet werden durfte. Und nun überraschend der Tod.

Seine Frau schrieb, wohl eingedenk der Tatsache, dass wir uns so lange trotz besserer Absichten nicht mehr gesehen hatten, dass die letzten Jahre sie einfach mit sich fortgerissen hätten. Das konnten wir ihr nachfühlen, denn so fühlen wir uns selbst schon lange, mitunter Tag für Tag.

Wie alt war er eigentlich?, fragte ich die Liebste, während sich auf dem Bildschirm der neue Bundespräsident der ersten Gratulanten erwehren musste. Weißt du, wann er geboren worden ist? Ja, sagte J., im Juni 1961. Das fand ich schwer zu verkraften, denn ich hatte zwar gewusst, dass er jünger gewesen war als ich, aber gleich elfeinhalb Jahre? Oh, sagte ich, dann war er sogar noch zwei Jahre jünger als du.

Ich brauchte hernach lange, bevor ich mich wieder an die Durchsicht meiner letzten Roman-Fahne machen konnte. Zuerst sah es so aus, als ginge es gar nicht, sodass ich in der Küche damit begann, den Wasser- und den Eierkocher zu entkalken. All diese Übersprungshandlungen also, zu denen man neigt, wenn einem der Tod zu nahe kommt. Später stritt ich mich mit der Liebsten, weil ich fand, dass sie irgendein blödes Kabel nicht richtig aufgewickelt hatte, danach gingen wir hinaus in die Weinberge, wo es zwar noch Sonne aber auch etwas Wind aus Ost gab. An die Arbeit schafften wir es beide erst spät, so spät, dass ich mit meiner täglichen Portion Fahnenkorrektur erst eine Viertelstunde vor Mitternacht fertig wurde.

In der Nacht träumte mir, dass ich ein Beerdigungsunternehmen eröffnet hatte. Ich stellte drei Mitarbeiter ein, und das Erstaunliche war, dass wir in einem anderen Land lebten, in dem noch niemand die Geschäftsidee gehabt hatte, ein Bestattungsunternehmen zu betreiben. Mir kommt, während ich dies schreibe, der Gedanke, ob es sich bei diesem Land um das ‚Land ohne Tod‘ gehandelt haben könnte. Eine Örtlichkeit, die meinem Unterbewusstsein wohl nicht nur als eine Art Wunsch-Land nahe liegt. Immerhin betrachte ich meinen Brasilienroman, dessen Fahnen ich zur Zeit zum zweiten Mal korrigiere, ja als mein persönliches Gegenstück zu Alfred Döblins ‚Land ohne Tod‘.

Gedenken Sie bitte unseres zu früh verstorbenen Freundes, lassen Sie sich nicht von den Jahren mit sich fortreißen und bleiben Sie glücklich
wünscht Ihnen Ihr PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker