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Die Wartenden auf meiner Wunderlist

Berlin, Dienstag, 5. Juli 2016, bei Joni Mitchells "Court & Spark" sowie "Blue" - beide von der
wunderbaren alten Music-Cassette meiner Liebsten

Am Morgen, vor Arbeitsbeginn, die Lektüre von Richard Wagners „Herr Parkinson“ beendet. Vielleicht lag es an der Veränderung des Zeithorizonts, also letztlich an dem veränderten Blick auf das eigene Leben, den dieses Buch mir bewirkt hat, dass ich auf den Gedanken kam, meine ToDo-Liste einmal auszumisten. Alle dort vorgemerkten Aufgaben, die bereits länger als ein halbes Jahr sinnlos darauf warten, erledigt zu werden, wollte ich löschen. Sagt man nicht sogar, dass Kleidung, die länger als zwölf Monate nicht getragen wurde, nur noch Ballast sei und in den Container gehört? Nun gut, ich glaube nicht an Feng Shui und ähnliche Lebenskrücken des orientierungslosen Bewohners des 21. Jahrhunders, aber Aufgabenlisten, die seit mehr als sechs Monaten unerledigt sind, sollte man die nicht wirklich endlich einmal dem Schwarzen Loch des Vergessens überlassen?

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Nun glaubte ich zwar nicht, dass ich danach mit Joni „I was a free man in Paris“ würde singen können, aber den Versuch war es immerhin wert – schon der Übersichtlichkeit halber, redete ich mir ein. Also ran!

Seit einigen Jahren benutze ich als ToDo-List eine App, die sich Wunderlist nennt. Sie ist kostenlos und hat eigentlich keine besonderen Vorzüge vor anderen Apps dieser Art, von den schönen Fotos für den Hintergrund mal abgesehen. Ich vermute insgeheim, dass ich mich von dem Namen Wunderlist habe verführen lassen, sie langfristig zu benutzen. Was fand ich da nun vor?

Naja, ich gebe zu, ich ging nicht direkt an die Löscharbeiten. Stattdessen habe ich erstmal die Gesamtsumme aller über die Zeit erledigten Einträge gezählt, die die Wunderlist, wenn man sie nicht endgültig löscht, immer im Hintergrund aufbewahrt. Es waren erstaunliche 783 Einträge, also Aufgaben, die ich in der Tat erledigt, abgearbeitet, gelöst etc. hatte. Ein dreifaches Bravo für den fleißigen Bub! Aber nun, nach dem prophylaktischen Eigenlob, zu dem meine Mutter gesagt hätte, dass es stinkt, endlich die unerledigten. Was gab es denn da?

Über die Zeit habe ich meine Wunderlist in verschiedene Rubriken eingeteilt. In alphabetischer Reihenfolge finden sich da von oben nach unten die Abteilungen: Arbeit allgemein / Arbeit literarisch / Bücherkäufe /Einkauflisten allgemein / Familie / Filme / LITERATUR / Privat / Reisen: Na, schaun wir mal.

Unter Arbeit allgemein fanden sich gleich zwei Einträge, die die Verfallgrenze längst überschritten hatten. Zum einen die Aufforderung, mein Vita- und Werkverzeichnis neu mit der Software ‚Pages‘ einzurichten, sowie unsere Webseiten, die meiner Frau und die meinen, zu einem anderen Provider zu übertragen. Beides ungeheuer wichtig, sogar dringend, aber zugleich so unüberschaubar, mühsam und abschreckend, dass ich auch heute entschied, sie erstmal auf der wartenden Liste der Wunder stehen zu lassen.

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Unter Arbeit literarisch standen drei Aufgaben, die ich aber mit gutem Gewissen als voraussichtlich bald zu erledigen stehen lassen konnte: Erstens die harsche Aufforderung „Mutterbuch beenden“. Zweitens: „Den nächsten P-Krimi schreiben“. Und drittens: „Bruder-Roman Schlusslektorat erstellen. Alles seit über einem halben Jahr wartend, aber das lag in der Natur der Sache und nicht an mir, schon gar nicht war es mein Versäumnis.

Gut, kommen wir zu Bücherkäufe, eine bei mir stets höchst dringliche und aktuelle Aufgabe. Da fand sich folgendes: 1. Bernd Mattheus: Georges Bataille – Eine Thanatographie, Band 1 besorgen. / 2. Fehlende Bücher von Georges Bataille besorgen. / 3. Roland Barthes‘ fehlende Bücher besorgen. / 4. von René Girard „Der Sündenbock“ kaufen. / 5. Célines fehlende Bücher kaufen. „Tod auf Kredit“, „Rigodon“ (Deutschland-Trilogie) / 6. Hubert Fichtes noch fehlende Bände aus der „Geschichte der Empfindlichkeit“ kaufen.

Ich gebe zu, dass diese Bücherkäufe sogar schon weit länger als ein halbes Jahr auf ihre Verwirklichung warten, aber daran war nichts zu ändern. Das ist nun mal das Schicksal eines jeden Sammlers. Zum ersten Band der Thanatographie von Bataille habe ich zwar den passenden zweiten Band, aber der fehlende erste ist kaum zu bekommen. Ich weiß, dass ein Antiquar in der Schweiz diesen Band anbietet, doch kaufe ich ihn nicht, weil er mir erstens zu teuer erscheint und zweitens in zu schlechtem Zustand ist. So muss ich also weiter warten. Zu löschen ist da NICHTS.

In der nun folgenden Rubrik Familie gibt es lediglich zwanzig erledigte Aufgaben. Nichts wartet dort also. Falls doch, bitte melden. Und zwanzig erledigte Aufgaben finde ich für die Familie schon reichlich.

Dann Filme. Da steht, ich müsse den Film „Der schmale Grat“ besorgen. Mehr nicht. Es wäre lächerlich ausgerechnet diesen einzelnen Film zu löschen. Es würde mich von nichts befreien – also Feng Shuimäßig meine ich. Ich weiß zwar nicht mehr, warum ich mir diesen Film notiert habe, auch nicht, um was es darin geht, aber es wird wichtig gewesen sein. Also … vielleicht finde ich ihn demnächst mal.

Unter der großgeschriebenen Abteilung LITERATUR finde ich nur eine schon lange wartende Aufgabe, nämlich den Vorsatz einen Essay über Céline zu schreiben. Nun ist das tatsächlich schon etwas länger her, genau wartet diese Absicht auf ihre Umsetzung seit 2012, dem Jahr, in dem ich die Céline-Biographie von Philippe Muray las. Außerdem ist dieses Schreibprojekt im Grunde längst in dem größeren, umfassenderen Thema, das ich „Faschismus aus dem Geist der Moderne“ nenne, aufgegangen, an dem ich seit über einem Jahr arbeite. Aber das sagt natürlich zugleich auch, dass der Céline-Stoff nach wie vor aktuell für mich ist. Und zudem – aber das muss ich wohl gar nicht betonen – gebe ich Schreibprojekte grundsätzlich niemals auf. Also soll er bleiben, dieser antisemitische Schwätzer, der zugleich ein großer Autor war.

Die vorletzte Abteilung heißt Privat und enthält lediglich die Aufforderung „Weiter Italienisch lernen!“ Aber da kann ich nur lachen, da hilft auch das Ausrufungszeichen nach dem „lernen“ nichts. Und wenn mir zu Privat nichts anderes einfällt als das, dann bin ich auch mit noch so vielen Sprachkenntnissen nicht wirklich zu retten.

Die letzte Kategorie betrifft das Reisen. Und da steht nun schon lange: Eine Reise nach Elba planen, um Daniel + Kim auf ‚La Conca‘ zu besuchen. Ja, das ist wirklich un caso triste, ma denho di memoria. In diesem Jahr wird das nichts mehr. Und fürs nächste hat die Liebste schon dringend Schottland vorgeschlagen.

Was bleibt also zu tun? Mit all den Aufgaben wird das Leben wohl niemals fertig. Und erst recht nicht ich. Richard Wagner schreibt gegen Ende seines Buchs „Herr Parkinson“:

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Alles ist ein fernes Ufer. Alles ein unerreichbarer Horizont. Ich weiß immer noch, wo ich wohne, aber ich frage mich jetzt, wozu. Schließlich ist es ohne weitere Bedeutung. Ich weiß noch so manches, aber es nützt mir nichts. Hier komme ich nicht mehr heraus.

Und was dann.
Und was noch.
Und was auch.
Und was nicht.

Ich empfehle dringend, lesen Sie Wagners Buch. Setzen Sie es nicht erst lang und breit auf Ihre ToDo-Liste, um es dann in einem halben Jahr wieder vorzufinden, unerledigt. Tun Sie es einfach. Sofort. Ich spaße nicht. (Das ist vielleicht mein Fehler.)

Ansonsten wünsche ich Ihnen, dass Sie mit der angefangenen Woche gut zurecht kommen. Und, wie immer, bleiben Sie glücklich! Von Herzen, Ihr PHG

PS: Mir fiel zum Glück noch auf, dass es unsinnig ist, zwei verschiedene literarische Rubriken zu benutzen, also die LITERATUR und die Arbeit literarisch. Also habe ich sie zusammengelegt. Ha, wenn das kein Fortschritt ist!

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker