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Gnade

Wiesbaden, 25. Dezember 2012, bei Ludwig van Beethovens Streichquarteten Nr. 1+2, Op.18 (Guarneri Quartet)

Im ‚Neuen Handbuch der theologischen Grundbegriffe‘ las ich unter dem Stichwort „Gnade“ diesen Versuch einer Definition: Gnade ist die unverdiente, unerwartete, unbegreifliche Zuwendung der Liebe Gottes zum Menschen, die diesen zum Heil in der Lebensgemeinschaft mit Gott führt, indem sie den Widerstand gegen Gott als Gefangenschaft des Menschen bei sich selbst aufdeckt und befreiend überwindet.

Maria Verkündigung

Nun ist die theologische Gnadenlehre ja gerade im 20. Jahrhundert sehr lebhaft diskutiert worden. Die katholische Theologie des 20. Jahrhunderts kann gewissermaßen als eine Debatte um das Stichwort „Gnade“ gelesen werden. Diese Debatte hat zwangsläufig auch zum Thema des „Übernatürlichen“ geführt, einem klassischen Punkt der Gnadenlehre. Ja, das Thema der menschlichen Gotteserfahrung scheint das Übernatürliche geradezu zur Voraussetzung zu haben.

Definiert man Gnade in dieser Weise schlicht als die Liebe Gottes zu den Menschen, wie kann ein Mensch dann die Erfahrung dieser Liebe machen? Innerhalb einer naturgesetzlich organisierten Welt müsste das unmöglich sein. Ist also Gott bzw. die menschliche Erfahrung Gottes unser Ausweg aus der Determiniertheit der Naturgesetze?

Der Heilige Augustinus – einer meiner Lieblingsschriftsteller – sagt dann ja auch an keiner Stelle in seinen Bekenntnissen, dass er Gott in irgendeiner Weise ‚habe‘. Er fragt vielmehr ständig, wie es möglich sein könne, dass er ihn hätte. Etwa in diesen wunderbaren Zeilen im LIBER PRIMUS:

Wer gibt mir, daß ich Ruhe finde in Dir? Wer gibt mir, daß Du kommest in mein Herz und es trunken machest; daß ich mein Schlechtes vergesse und mein einziges Gut umfange – Dich?

Der Heilige Augustinus als Kirchenlehrer

Wer gibt mir? fragt Augustinus. Es ist ihm also klar, dass der Mensch selbst es nicht tun kann. Es muss ihm gegeben werden. Er kann nicht einfach sagen, ich glaube Dich. Selbst der Glauben muss dem Menschen gegeben werden. Aber wer gibt mir? Nun, natürlich nur Gott allein. Ich habe, wenn ich mich prüfe, nur Widerstand gegen ihn, und ich bedarf seiner Gnade, dass er in mein Herz komme. So zumindest verstehe ich die Position des Heiligen Augustinus.

Aber müssten wir, damit uns die Gnade widerfährt, dass er in unser Herz kommt, nicht in einer übernatürlichen Welt leben? Sicher müsten wir das, denn nur wenn Gott gewissermaßen wie ein Anwalt wäre, der vor dem unbarmherzigen Gerichtshof der kausalen Natur durchsetzt, dass ausgerechnet für uns eine Ausnahme gemacht werden soll, könnten wir seine Erfahrung machen.

In einer kausalen Welt hingegen, einem kausalen Kosmos, ist Gnade aber unmöglich; sie wäre ja sonst die Leerstelle, der aus dem Geschehen herausgenommene Raum, in dem Ursachen keine Wirkung hätten. Deshalb kann Gnade nur eine Erfindung des Menschen sein, die uns unverdientermaßen das Tragen der Folgen unserer Taten erleichtern soll. Das aber ist unmöglich. In einer von Ursache und Wirkung determinierten Welt können wir niemals erlöst werden.

 

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker