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Nach was schmeckt der Wein?

Wiesbaden, 21. Dezember 2012, bei Gioachino Rossinis 'La donna del Lago'

Mein Bruder D. sagte vor Jahren einmal, eigentlich liebe er Weine, die nach gar nichts schmecken. Komisch, hatte ich damals gedacht, denn im Grunde ist das ja ein Paradoxon und als Zielvorstellung unerfüllbar.

Nun gut, inzwischen glaube ich, dass er nur die zwangsläufige Konsequenz aus den realen Verhältnissen auf dem Weinmarkt gezogen hat. Man kennt das ja, wenn man irgendwo einen Wein beschrieben findet, dann schmeckt er angeblich nach allen möglichen Dingen. Nach Früchten vor allem, nach Kirschen und Pflaumen, nach Äpfeln und Johannisbeeren, ach Gott, lassen wir das. Es scheint so zu sein, dass niemand, der einen Wein beschreibt, mehr in der Lage ist zu sagen, dieser Wein schmeckt nach WEIN, er schmeckt nicht wie irgendwas anderes, sondern nach Wein, nach einem leichten vielleicht oder einem starken, gehaltvollen usw. Und dabei will ich mal gar nicht von all den Weinen reden, die eindeutig nach etwas schmecken, was in der Tat absolut nichts mit ihnen zu tun hat, nämlich nach dem Holz, in dem sie gelagert werden. Der Umstand, das eine Frucht wie der Wein, bedingt durch den Boden, auf dem er angebaut wird, sowie durch seine eigene Charakteristik nach irgendeiner anderen Frucht schmecken könnte, das sei zugegeben. Dass aber ein Wein deshalb besonders hochgeschätzt wird, weil er nach dem Fass schmeckt, in dem er gelagert wurde, das ist eigentlich schon eine Art Witz. Zumal wir ja wissen, dass das realiter gar nicht mehr so ist! Die berühmten Barriqueweine werden ja oft genug in Stahlfässern ausgebaut, denen man lediglich eine Handvoll Holzspäne beigegeben hat. Man müsste also ehrlicherweise sagen, dieser Wein schmeckt nach Sägespänen. Angesichts dessen verstehe ich die Kontraposition von D., er wolle Weine, die nach gar nichts schmecken, natürlich total.

Tatsache ist aber, dass ich das alles bis vor einigen Monaten gar nicht Ernst genommen habe. Ich hatte das alles im Grunde für einen Werbegag gehalten, wie ich jetzt erkennen muss. Denn in der Tat hatte ich nie einen Wein getrunken, der tatsächlich so schmeckte, wie er in der Werbung charakterisiert wurde. Ich hatte das alles letztlich nur für Metaphern gehalten. Und dann passierte vor einigen Wochen folgendes. Ich kochte endlich mal wieder für meine Frau und mich, wir hatten vorher in einem sehr gut sortierten Weinladen einen italienischen Weißwein gekauft, der hier nicht genau benannt werden soll, und was stellte ich fest? Der Wein schmeckte tatsächlich nach Kiwis! Verstehen Sie mich recht, ich habe absolut nichts gegen Kiwis. Ich mag Kiwis! Wirklich! Und im Grunde schmeckte der Wein auch absolut toll, er war lecker, frisch, sehr lebhaft und passte absolut zum marinierten Fenchel und der Zitronen-Pasta, die ich an diesem Abend serviert habe. Wir haben ihn genossen! Und ich habe mit J. natürlich nicht darüber gesprochen, dass ich eigentlich keine Kiwis trinken wollte! Verdammt noch einmal! Der Wein war lecker, und ich wollte uns selbstverständlich nicht den Abend verderben. Aber was liegt hier eigentlich vor?

Vor über dreißig Jahren habe ich mit meinem ältesten Sohn folgende Situation erlebt. Er war damals kaum vier Jahre alt und geriet mit meiner damaligen Frau in ein Gespräch darüber, was eigentlich LEDER sei. A. hatte ihm wohl eine Tasche oder irgendetwas anderes gezeigt und auf seine Frage geantwortet, das sei „aus Leder“. Er fragte sie daraufhin, woran man Leder erkennen könne. Und A. antwortete, man könne Leder daran erkennen, wie es sich anfühle und wie es rieche. Und mein damals noch nicht in die erste Klasse der Grundschule gehender Sohn antwortete ihr: „Vielleicht habt ihr noch nie wirkliches Leder gesehen.“

Erkenntnistheoretisch hat er damit natürlich die absolute Grundaussage getroffen. Wie validieren wir die Fakta unserer eigenen Erfahrung? Und gibt es in der Außenwelt etwas, das wir gewissermaßen als „Reales“ unzweifelhaft erkennen können? Vielleicht haben Sie beide Recht, mein Bruder D. und mein damals vierjähriger Sohn! Vielleicht wissen wir gar nicht, was irgendetwas real ist. Und vielleicht sollten wir uns aus diesem Grunde mit Weinen begnügen, die „nach gar nichts schmecken“. Aber wo findet man die???

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker