Dankbarkeit für das letzte Jahrzehnt
Mittwoch, 05. September 2012, Wiesbaden, bei Charlie Parker with Orchestra: "Made with Strings"
Am vergangenen Donnerstag ging ich nach meiner Ankunft in Naumburg und meinem vergeblichen Klingeln am Portal des Nietzsche Dokumentationszentrums, das ihr Oberhaupt Dr. Eichberg vermutlich nur Minuten zuvor verlassen hatte, über den Holzmarkt zurück ins Zentrum, zum Markt und dort in mein bevorzugtes Esslokal in Naumburg, die Kanzlei. Und auf diesem Weg passierte mir etwas Seltsames. Ich begriff nämlich ganz überraschend, gewissermaßen im Gehen, dass das zurückliegende Jahrzehnt das reichste meines Lebens gewesen war.
Es ist schwer zu beschreiben, was mir da eigentlich bewusst wurde. Es war in etwa so, als träte mir diese Zeit plötzlich vor Augen, um mich spüren zu lassen, dass inmitten all dieser Jahre ein starkes Gefühl von Freude verborgen war. Ich spürte es mitten in der Brust, wie einen strahlenden Kern, den ich mit mir trug.
Das hat mich verblüfft und zugleich außerordentlich glücklich gemacht, zumal ich auch gerade das Paradoxe an diesem Gefühl empfand. Denn wenn ich es genau nehme, dann beginnt der Zeitraum, den ich hier so lobe, genau zu Ostern 2001, als ich mit meiner Krebsdiagnose nach Düsseldorf fuhr. Ich sehe noch heute unseren Wagen vom Hof der Glemsmühle fahren, auf dem mich in der Nacht zuvor die beiden schwarzen Todesvögel besucht hatten. Wir fuhren fort, um den Krebs zu bekämpfen, und ich war in diesem Moment vollkommen davon überzeugt, dass ich nicht zurückkehren würde.
Ja, diese schreckliche Zeit, in der ich meine linke Niere verlor und meine Tochter Minuten vor meiner Operation anrufen musste, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren, ohne ihr etwas von meiner Krankheit sagen zu dürfen, das gehört alles dazu. Gehört zu meinem Glück dazu, das die Jahre seit 2001 erfüllt hat. Und natürlich ist danach dann so unglaublich viel passiert, dass ich gar nicht wüsste, wo man beginnen sollte, wollte ich es erzählen.
Benennen möchte ich freilich zumindest einen Punkt, der nicht unterschlagen werden darf. Und damit meine ich all die wunderbaren Menschen, die ich in den vergangenen Jahren kennenlernen durfte. Blicke ich zurück, so sehe ich in den Jahren vor meinem Nierenkarzinom lauter Menschen, die sich gewissermaßen ‚nicht bewegen‘, womit ich sagen will, dass es Menschen waren, die statisch geworden waren. Alte Bekannte, von denen nichts mehr zu erwarten war. Und die mich sogar verließen, als ich glaubte, mich ans Sterben zu machen. Sie waren die Reste derer, die mich schon vorher verlassen hatten, nämlich die, die meine Scheidung, abermals zehn Jahre zuvor, benutzt hatten, um sich auf die Seite von A., meiner Exfrau zu schlagen. Ich habe es keinem übel genommen, doch war ich von Michael H. ganz besonders tief enttäuscht.
Die Menschen, die ich in den Jahren nach meiner Krebserkrankung traf, waren alle ganz anders. Viele waren von der Art, die ich zuvor als Freaks bezeichnet hätte. Tief dem Leben verpflichtete Menschen, die die Welt nicht in Schwarz und Weiß einteilen, Menschen, die mir geholfen haben, mich begleitet haben, mir die Liebe zum Leben zurück gegeben haben. Dazu gehört natürlich auch meine jetzige Frau, die genau die Frau ist, die ich vom ersten Tag an hätte haben sollen. Ich kann nur dankbar sein, dass ich sie zwar spät aber dann zum Glück doch noch getroffen habe.
Man könnte sagen, wenn man untertreiben wollte, dass ich eine Menge Unglück gehabt habe. Und mitten darin eine solche Menge Glück, dass ich fast beschämt bin, dass mir das passiert ist.
Gut, ich weiß, dass das alles eigentlich nur privat ist. Vielleicht sogar intim, wie meine Verlegerin gestern sagte, als ich sie fragte, was sie über den Volltext-Artikel denke, den Alban Nikolai Herbst über mich geschrieben hat. Ihre Bezeichnung „intim“ war natürlich auch eine Frage, die wissen wollte, ob es nicht „zu intim“ sei. Aber ich denke, das ist es nicht. Die Grenzen des Intimen haben sich in der digitalen Welt sowieso verschoben. Und außerdem lebe ich als Autor eh in der Öffentlichkeit. Was soll da zu intim sein?
Das Glück meiner Existenz – so wie es sich in den vergangenen Jahren realisiert hat – kann ich hingegen ruhig in die Welt rufen. Für mich ist dieser Ruf wichtig. Und für die Welt … ach, das weiß man ja.