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Es sei denn, alle Protagonisten wären tot

Wiesbaden, 30 Juni 2012, bei Rossinis "Barbiere di Seviglia", mit der Callas und Gobi.

Man möge entschuldigen, dass meine Eintragungen hier so unvollständig und unregelmäßig erfolgen. Ich weiß durchaus, dass man sich auf diese Weise keine Lesergemeinde erzieht. Nun, da kann ich nichts machen. Nehmen Sie also bitte wie es kommt.

Einerseits bin ich gegenwärtig sehr zufrieden mit meinen Arbeitsergebnissen, denn ich habe mir tatsächlich im Juni vom 2. bis zum 16. einen Arbeitsurlaub in Prerow auf dem Darß/Fischland erlaubt, was auch in der Tat wie erhofft zu guten Ergebnissen geführt hat. Mit 60 Seiten kam ich zurück. Seither habe ich daran weiter gearbeitet. Es ist mein Belém-Roman, zu dem mir Jan Oldenburg inzwischen auch versprochen hat, anfallende Fragen zu beantworten, da er ja in Belém vor Ort ist.

Nächtlicher Blick aus dem Fenster des Hotels

Dieser Blick aus dem Hotelfenster bei Nacht zeigt eigentlich sehr schön, was ich mal die Atmosphäre des Buches nennen möchte. Der Roman schildert ein traumhaftes, magisches Geschehen, das aber aus der Realistik der Darstellung entspringt. „Steine groß wie prähistorische Eier“, wie es bei Gabo mal heißt. Man macht ein ganz normales Fenster auf und sieht etwas, das ein Märchenschloss sein könnte.

Interessant ist, dass sich dieser Charakter des Buches auch in der Schreibweise deutlich zeigt. Ich meine damit, dass ich noch nie einen Text geschrieben habe, der sich unter der Entstehung so früh selbständig gemacht hat. Es ist ja normal, dass man eine Geschichte plant und entwickelt und dann nach einiger Zeit feststellt, dass Figuren quasi selbständig zu handeln beginnen. Man hat sich am Morgen hingesetzt und eigentlich genau gewusst, was für Szenen als nächste dran sind. Und dann passiert etwas anderes, die Figur tut etwas, woran man vorher gar nicht gedacht hat. Und in der Regel ist das dann sogar noch viel besser. Das ist ja gewissermaßen üblich, wenn eine Geschichte zu leben beginnt, und es wäre eher bedenklich, träte dieses Phänomen nicht ein.

Bei meinem Belém-Stoff geschah das aber von allem Anfang an. Schon die ursprünglich allererste Szene, in der Cramer im Flugzeug während des Landeanfluges erwacht und sich erinnert, dass er im Traum die Frau mit dem kalkweißen Kopf gesehen hat, war mir zuvor selbst im Traum begegnet. Ich weiß bisher noch nicht, was diese Frau bedeutet, aber ich wusste, dass ich damit anfangen musste. Das ist ein wenig so wie die Geschichte mit dem Engel zu Beginn des Romans  >>>> „Calvinos Hotel“.

Oder nehmen wir ein anderes Detail. Im Verlauf des 2. Kapitels wird Cramer am Tag seiner Ankunft in Belém das iPhone gestohlen, weil er unaufmerksam war. Darum ging es ursprünglich von der Planung her ganz allein, es sollte ihm das Handy gestohlen werden, um zu zeigen, wie ungeschützt er ist, wie wenig er sich zu helfen weiß. Es war geplant als ein Teil der Charakterisierung der Figur, denn wenn er später entführt wird, dann musste vorher gezeigt werden, dass er in der Stadt Belém nicht aus eigener Kraft zu bestehen vermag.

Okay, kaum hatte ich aber diese Szene mit dem kleinen Überfall auf der Straße geschrieben, da hatte ich Estelle am Hals, die Diebin, eine junge Frau, die auf der Straße lebt und dort nicht nur zu überleben versucht, sondern auch schier verrückt vor Kummer ist und wie eine Besessene durch die Straßen der Stadt irrt, weil sie auf der Suche nach ihrer dreijährigen Tochter Olinda ist, die in der Nacht vor vier Tagen verschwunden ist. Möglicherweise hat man sie ihr geraubt. Estelle hat sich eine Art Wahnsystem erdacht, das ihr helfen soll, Olinda auf sich aufmerksam zu machen und sie wiederzufinden. Jetzt muss sie ständig all die möglichen Kontaktorte in der Stadt kontrollieren und ist der Erschöpfung nahe.

In ähnlicher Weise funktioniert es mit diesem Buch von Anfang an, und ich muss mich beeilen, alles festzuhalten, was da entsteht, denn ich kann es größtenteils erstmal nur zur späteren Bearbeitung notieren, weil ich sonst mit der Entwicklung des Buches ganz durcheinander kommen würde. Mir strömt da ein Reichtum zu, den ich nur schwer zu kanalisieren vermag.

Von der erzählerischen Form her ist das Buch eine drastische Fortentwicklung früherer Bücher, da ich aus vielen verschiedenen Perspektiven erzähle. Das knüpft einerseits an meinen neuen Roman >>>> „Das Herz des Hais“ an, der im kommenden Herbst erscheinen wird. Da sind es allerdings nur zwei Personen, die sich abwechseln, die beiden Schwestern Johanne und Karen. Doch zeigt sich auch dort natürlich wie relativ die jeweilige Perspektive ist, wie bedingt der Blick auf die Welt ist, den jede der Schwestern hat – und wo die Verständnisprobleme liegen, weil keine der beiden letztlich aus der eigenen Weltsicht heraus kann.

Aber natürlich ist es so, dass ich diese Multiperspektive schon in meinem Romanerstling >>>> „Seelenlähmung“ benutzt habe, der in diesem Frühjahr in einer überarbeiteten Neuauflage wieder erschienen ist. In der Seelenlähmung ist es freilich so, dass es einen Hauptstrang der Erzählung gibt, der von Beinert bestritten wird, während er auf der Suche nach dem verschwundenen Freund Johannes Klett ist. Eine zweite Ebene bilden Kletts zurückgelassenen Aufzeichnungen. Und drittens gibt es im Buch eine Vielzahl von nicht extra gekennzeichneten anderen Stimmen, die für mich immer so etwas wie die Funktion eines griechischen Chores gehabt haben. Die Welt, die über dich redet, streitet, Vermutungen anstellt, sich widerspricht etc. Neugieriges Geplapper mitunter, von dem man nicht zu erkennen vermag, wer da spricht bzw. es nur dann entschlüsselt, wenn man sich fragt, wer hier in dieser Geschichte welche Informationen haben kann. Das Buch ist, als es 1981 erstmals erschien, gut aufgenommen worden und hat bei den Lesern durch diese ständig wechselnde Perspektive auch keine Verwirrung ausgelöst. Heute ist das wohl anders, denn so etwas wie einen modernen Roman bzw. gar einen postmodernen gibt es ja heute nicht mehr, sodass die Lesefähigkeit der Leser doch arg abgenommen hat und solch komplex gestaltete Texte auf kein Verständnis mehr stoßen.

Mit dem neuen Buch, an dem ich seit Belém arbeite, ist es  komplexer und einfacher zugleich. (Man gestatte mir diesen kleinen Kleist.) Komplexer, weil die Anzahl der Perspektiven, aus denen erzählt wird, weit größer ist. Da sind bisher der Deutsche Hendrik Cramer, Filmscout auf Arbeitsreise, Chris Cardoso, sein Assistentin, Hanne Groth, seine Exfrau, Wim van de Schelde, sein Übersetzer und Begleiter in Belém am Amazonas, Plácido, ein leprakranker Krüppel, der auf der Straße lebt und Cramer am Ende retten wird, dann Estelle und ihre Tochter Olinda, sowie die Doida, eine weitere Obdachlose. Und so, wie der Roman sich bisher schreibt, bin ich gar nicht sicher, dass das schon alle sind. Wie gesagt, das macht den Stoff naturgemäß weit komplexer als die oben aufgeführten Bücher.

Andererseits ist er aber auch zugleich einfacher, weil diese unterschiedlichen Stimmen weit klarer als zum Beispiel im Roman „Seelenlähmung“ voneinander getrennt sind, sodass man sie besser identifizieren kann. Der wichtigste Punkt ist aber, dass all diese Stimmen sich gegenseitig ergänzen und komplettieren, sodass erst durch sie der Flickenteppich der Realität eigentlich vollständig wird. Mit vollständig meine ich hier nicht, dass die Geschichte tatsächlich komplett wird. Das wäre eine Illusion, die man aufgeben muss. Ich meine damit in etwa eine Vollständigkeit, wie sie ein Puzzlespieler empfinden mag, der plötzlich nach längerem Ausprobieren das Bild zu sehen beginnt, um das es geht. Und der im selben Moment auch begreift, dass es jenseits der Grenzen dessen, was er da zu sehen beginnt, noch weiter geht bzw. die Dunkelheit erneut beginnt. Es gibt keine vollständigen, abgeschlossenen Geschichten, es sei denn, alle Protagonisten wären tot.

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker