Allgemein

Nature morte

Spinozahaus
Spinozahaus

Wir haben im vergangenen Jahr eine Reise durch die Niederlande gemacht und sind dabei völlig abseits dessen gewesen, was man als Urlauber in Holland normalerweise sieht und erlebt, wenn man dort zum Baden etc. hinfährt. Vor allem ging es mir bei dieser Reise um die Spuren, die René Descartes und Spinoza hinterlassen hatten, weil ich seit Jahren mit einem Schreibprojekt umgehe, das diese beiden Philosophen behandeln soll.

Von Spinoza, diesem ‚Juden mit den durchscheinenden Händen, der im fahlen Halblicht Kristalle schliff‘, wie Jorge Luis Borges in einem Gedicht schrieb, gab es in Rhynsberg nahe Katwijk ein seit Jahren geschlossenes Haus mit zerbrochenen Fenstern in einer demolierten Straße, die für den Abriss vorgesehen waren.

Natürlich sind das sowieso in gewisser Weise nostalgische Ambitionen, auf die man besser verzichten sollte. Aber wenn man einen Stoff recherchiert, dann geht es eben auch darum, dass man ein Gefühl für die Gegebenheiten, Umstände und ursprünglichen Lebenssituationen entwickelt, die das Handeln der Figur geprägt und zumindest bedingt haben mögen. Angesichts dessen ist die Abrissbirne zumindest kontraproduktiv.

Das Spinozahaus war allein zwischen einer Reihe von typischen holländischen Eigenheimen aus den 60ger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stehengeblieben. Und während im Hause des Philosophen, der Linsen schliff, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen, einzelne Butzenscheiben erkennbar schon seit Jahren herausgefallen oder zerschlagen waren, pflegten nebenan die Bürger ihre drei mal drei Meter großen Rasen.

Spinozalaan
Spinozalaan

Daran angrenzend wuchtete die Abrissbirne in die Backsteinfronten der Häuserwände, dass man sich wunderte, auf welche Weise die Eigenheimbewohner dort überhaupt weiter zu leben vermochten. Vielleicht fanden sie das alles ja ebenso unerträglich wie wir.

Spinozalaan
Spinozalaan

Ich erinnerte mich heute deshalb wieder an diese Szenerie, weil mir zwei Postkarten in die Hände fielen, die wir während unserer Reise im Franz Hals Museum gekauft hatten. Es sind Stillleben von Pieter Claesz. Bilder mit Fruchtkörben, Käselaibern, Silberschalen und matt glänzenden Kannen, neben denen das Rot der Früchte schimmert.

Aber was sind Stillleben überhaupt? Und was wollen sie sagen? Ich denke, dass die allgemeine Auffassung, sie gemahnten an die Vergänglichkeit oder sogar den Tod, was ja vor allem durch die französische Variante des Titels nahegelegt wird, falsch ist. Die Vergänglichkeit ist natürlich nicht zu leugnen, aber sie ist erst das Hinzugedachte. Diese Bilder sind also zwar Behälter oder Projektionsflächen für unser Wissen um die Vergänglichkeit, das, was sie zeigen, halten sie jedoch fest und geben ihm Dauer. Noch dort, wo der Verfall augenscheinlich ist (eine verwelkte Blume, ein verschimmelter Käse etc.), behauptet das Bild die Gegenwart des Dargestellte; in diesem Falle seit über 350 Jahren. Wir wissen also, es ist alles vergangen, aber wir können doch sagen, wie schön. Stillleben sind weniger Mahnung als vielmehr ein Trost.

Weil mir der Besuch in der Spinozalaan diesen Trost verwehrte, war ich vermutlich so enttäuscht. Ich hatte ein Bild vor Augen, das diese schöne Dauer nicht mehr behauptete. Der Bagger brauchte nur einmal die Schaufel zu schwenken, damit von Spinozas Haus lediglich ein kleiner Haufen Backsteine bliebe. Und so stand am Ende wieder die alte Erkenntnis, dass man die Philosophen nicht im Museum besuchen sondern im eigenen Kopf neu denken sollte.

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker