Ein Tag mit Reinhard Keiser am Gänsemarkt
06. Juni - Wiesbaden - Wagner: Tannhäuser
Dass jetzt, während ich schreibe, auf meinem Lieblings-Opernsender 1FM noch der Tannhäuser begonnen hat, ist eine wirkliche Bonusgabe für den Tag, die ich sehr zu schätzen weiß.
Dabei bin ich am Morgen in Sachen Oper schon hochgradig verwöhnt worden, denn infolge meiner Angewohnheit, mich beim Aufstehen von einer Oper begleiten zu lassen, indem ich den Rechner anwerfe und dann via iTunes auf 1FM schalte, begann mein Tag mit dem ungeheuren Satz „Soll ich das Herz noch aus der Brust dir reißen?“
Ich war sofort wie gebannt, schaute in der Anzeige nach, was ich da hörte, und sah, dass ich einen Satz aus einem Rezitativ von Reinhard Keisers Oper MASANIELLO FURIOSO ODER DIE NEAPOLITANISCHE FISCHEREMPÖRUNG gehört hatte. Kurz darauf begann eine wunderschöne Arie, und ich geriet in Gefahr, aus meinem Schlafanzug gar nicht mehr rauszukommen, weil ich mich nicht wegbewegen mochte.
Nun, ich habe dann ziemlich viel lauter gestellt, um beides zu haben, die Musik und einen erträglichn Anblick im Spiegel des Bades. Das war auch gut so, denn kurz darauf klingelte bereits der Paketbote, der Sven Lindqvists „Durch das Herz der Finsternis“ sowie Peter Wapnewskis „Der Ring des Nibelungen – Richard Wagners Weltendrama“ brachte.
Reinhard Keiser ließ mich dann allerdings auch während des weiteren Tages nicht mehr los, denn das, was ich von der Oper noch hatte hören dürfen, das hatte mir sehr gefallen. Natürlich kannte ich sie nicht. Überhaupt wusste ich von Keiser wenig, zuvörderst dabei übrigens den Umstand, dass Karin im April bei der Aufführung seiner „Markus Passion“ in Stuttgart im Chor mitgesungen hatte, wovon sie der Liebsten erzählt und sie dazu eingeladen hatte. Die „Markus Passion“ ist zufällig auch die einzige Aufnahme, die ich von Reinhard Keiser in der Musik-Sammlung habe. Ansonsten kamen mir nur die oberflächlichen Stichworte Barockoper, Norddeutscher Komponist, Hamburg?, Anfang des 18. Jahrhunderts gestorben?, Freund von Telemann in den Sinn.
Das musste natürlich dringend ergänzt werden, doch kam ich dazu erstmal nicht. Die Sendung an die Tochter musste nach dem Frühstück auf die Post, dann arbeitete ich etwas an den Recherchen zum Roman „Die Konzessionen des Herzens“, genauer zum Thema Völkermord (Goldhagen), bevor ich mich für Frau M. auf das erste Coaching des Tages vorbeiten musste, die recht spät nicht wenige neue Kapitel geschickt hatte. Während dessen kam eine Absage des Coaching-Termins von Herrn B., der zu einer Fortbildung gewesen war und außerdem in der Agentur hatte arbeiten müssen, sodass er keinen neuen Text liefern konnte. Die freigewordene Zeit nutzte ich nach dem ersten Coaching direkt, um in den Ort hinunter zu gehen, denn ich musste zur Bank und hernach zur Ärztin, um eine Überweisung abzuholen, die morgen auf die Post soll.
Nach meiner Rückkehr dann das Abendessen, für das ich mir noch mal das Vergnügen einer Spargelmahlzeit mit Lachs und Bärlauch bereitete. Dann die Vorbereitung auf das Coaching mit Frau L., die ihren Roman nun sehr schön dramatisch engzuführen beginnt, vier Kapitel insgesamt hatte sie geschickt, über die wir sehr ergebnisorientiert sprechen konnten.
Aber dann, nach diesem letzten Coaching, riss ich mir den ersten Band von Ulrich Schreibers „Die Kunst der Oper“ * aus den Regalen, die unsere Musikbibliothek enthalten, und stieg in die Geschichte des frühen deutschen Musikdramas ein, in die Zeit, da Keiser und Telemann gemeinsam die Hamburger Oper am Gänsemarkt leiteten, und dann in die Zeit des Niedergangs, als in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts die Opern schlossen, ein Jahr vor Keisers Tod schloss auch die Oper am Gänsemarkt. Und wie immer ist es zum Weinen und Heulen, wenn man die Meinungen des bürgerlichen Pöbels zum Niedergang der Kultur liest.
Schreiber zitiert einen Artikel aus einem zeitgenössischen sogenannten Universal-Lexicon, dessen Autor sich nicht entblödet, folgendes daher zu posaunen: „Aber man hat auch Ursache, sich zu freuen, wenn das Opern-Wesen in Deutschland mehr und mehr in Abnahme geräth. Das Leipziger Opern-Theater ist seit vielen Jahren eingegangen, und das Hamburgische liegt in den letzten Zügen. Das Braunschweigische hat gleichfalls unlängst aufgehöret; und es steht dahin, ob es jemals wieder in Flor kömmt. Auch in Halle und Weißenfels“ (wo die Liebste und ich vor anderthalb Wochen waren, um Heinrich Schütz zu huldigen) „hat es vormals Opern-Bühnen gegeben, anderer kleinen Fürstlichen Höfe ganz zu schweigen, die aber alle allmählich ein Ende genommen haben. Dieses zeigt den zunehmenden guten Geschmack unserer Landsleute, wozu man ihnen Glück wünschet.“
Glaubt man es? Kann soviel Frechheit und Perfidie möglich sein? Ich wünsche diesem nichtswürdigen Zeilenschmierer und journalistischen Lakaien, dass ihm der aller unmusikalischste Teufel, dem die Hölle in ihren tiefsten Schlünden Wohnung gibt, auf tausend Jahre mit glühenden Reisern seine nichtvorhandenen Ohren peitscht!
Aber das Dumme ist, dass auch in der Gegenwart letztlich nicht viel anders dahergeschwätzt wird, wenn wieder ein Theater stirbt, einem Haus die Mittel gekürzt werden usw. Ich habe es erlebt, wie es der Liebsten das Herz gebrochen hat. Und ganz Stuttgart hat es nicht gerührt. Das Volk gähnt dabei, denen geht das alles am A. vorbei, die kucken Dschungel-Camp und langweilen sich auf die Rente zu. Halt an dir mein Herz!
Wie schön dann andererseits, wenn Ulrich Schreiber in seinem überaus zu empfehlenden 5 bändigen Werk, das wir über Jahre bei der Büchergilde gekauft haben, wo es hoffentlich heute noch lieferbar ist, ein Detail aus der Keiserschen Oper analysiert und schreibt: „Ein Glanzstück Keisers ist der Ausbruch des Wahnsinns bei Masaniello in einem begleitenden Rezitativ, dem die d-moll-Arie „Ich eile nicht mehr zu Schiffe“ folgt. Hier läßt Keiser über die ersten acht Takte einfach den Ton D im Baß liegen, so daß die Musik sich nicht kadenzierend weiterentwickeln kann. Dann geht sie in die Dur-Parallele (B) und von dort nach F- und A-Dur weiter und bricht plötzlich ab; in diesen auskomponierten Augenblick der Sinnenverwirrung und Stille fällt der tödliche Schuß auf Masaniello. Schon dieser Hinweis auf Keisers harmonisches Fingerspitzengefühl läßt …“
Schreiber geht danach auf Änderungen ein, die Telemann an Keisers Werk vorgenommen hat, zu dessen Schaden, aber das soll hier nicht interessieren. Mir geht es vielmehr darum, dass man hier sieht, dass die Entfernung ungeheuer ist, die Entfernung zwischen denen meine ich, die die Ohren haben, um zu hören und den Verstand, um zu begreifen, was Keiser da komponiert hat, um den tödlichen Schuss auf seinen Helden in Szene zu setzen, und denen, die es zynisch in einen Gewinn umdeuten, wenn die ganze Musiktheaterlandschaft eines Landes stirbt! Galaxien passen dazwischen! Und Meere von Tränen! Nichtswürdiges Gesindel ist es! Martern aller Arten, sollen ihrer warten! Und im Gegensatz zu Konstanze sollen sie wirklich darunter leiden!
Okay, ich habe meinen Teil gesagt. Auf 1Fm läuft inzwischen „Cosi fan tutte“, das rettet. Denn da, wo Musik ist, ist das Rettende auch! Und jetzt gute Nacht – noch mit „Una donna, quindice anni“ – ein Schelm, der Böses dabei denkt.
* Ulrich Schreiber: "Die Kunst der Oper - Geschichte des Musiktheaters, Band I, Von den Anfängen bis zur Französischen Revolution", 1988, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main, ISBN 3 7632 31013