Synkopierter Trauermarsch für Brecht
Über Klaus Modicks neuen Roman »Sunset«, mit dem der Autor uns ein wunderbar intimes Porträt der deutschen Exilliteraten in Amerika gezeichnet hat.
Von Peter H. Gogolin
»Man geht nicht zum Vergnügen ins Exil«, schrieb Alfred Kerr in seinen Briefen, aber er wusste, »nur das Vergnügen des Bleibens wär noch geringer.« Der weltweit erfolgreiche Romancier Lion Feuchtwanger und seine Frau Marta, die über Marseille, Spanien und Portugal in die USA geflohen waren und seit 1943 in der komfortablen kalifornischen Villa Aurora lebten, gehörten zu den Privilegiertesten unter den deutschen Exilanten. Den Neid der Kollegen hat ihnen das ebenso eingetragen wie die Möglichkeit, dass sich Feuchtwanger ungestört seiner schriftstellerischen Arbeit und dem Aufbau seiner dritten Bibliothek widmen konnte, nachdem die beiden ersten den Nazis zum Opfer gefallen waren. Während viele Autoren nach dem Krieg längst nach Europa zurückgekehrt waren, beantragten Marta und er sogar die amerikanische Staatsbürgerschaft, die ihnen freilich wie zum Spott erst einen Tag nach Feuchtwangers Tod zugesagt werden sollte. Knapp anderthalb Jahre vor diesem Tod setzt die Handlung von Klaus Modicks neuem Roman »Sunset« ein, mit dem der Autor uns ein wunderbar intimes Porträt der deutschen Exilliteraten in Amerika gezeichnet hat.
Der 72jährige Lion Feuchtwanger ist allein im Haus und mit der täglichen Gymnastik beschäftigt, als an einem Augustmorgen 1956 zuerst ein ihm unverständlicher Schmerz und dann das Schrillen der Klingel am Tor der Villa Aurora den festgefügten Takt seines Lebens im kalifornischen Exil verschiebt und allem eine neue Bedeutung gibt. Während er den Schmerz zuerst noch ignorieren zu können glaubt, muss er dem Klingeln am Tor nachgehen, denn Marta, die ihm sonst derartige Alltagsaufgaben abnimmt, ist verreist und auch die Sekretärin hat frei. Am Tor steht ein Bote mit einem Telegramm, in dem ihn Johannes R. Becher, inzwischen Ostdeutscher Minister für Kultur, vom Tod Bertolt Brechts unterrichtet.
Für Lion Feuchtwanger, der den 14 Jahre jüngeren Brecht, trotz aller immer wieder zwischen ihnen aufbrechenden Auseinandersetzungen und Konflikte, als seinen einzigen Freund betrachtet hat, den er nach Möglichkeit förderte und insgeheim als den Sohn sah, den er nie hatte, beginnt nun ein Tag, an dessen Ende Feuchtwanger keinen Ehrgeiz mehr haben wird, »… sich ans Fließband der Literatur zu stellen, …«.
Modick lässt Lion Feuchtwanger in den Stunden, die ihn noch von diesem Sunset trennen, die Geschichte seiner Freundschaft mit Brecht ebenso durchschreiten wie die eigene wechselvolle Lebensgeschichte. Er taucht ein in eine Vergangenheit, die jetzt erst wirklich klar für ihn wird.
»Die Gegenwart gleicht der verwischten Landschaft, die während einer Autofahrt an den Seitenfenstern vorbeihuscht. Im Rückspiegel erst sieht man, wie die Landschaft sich zu einem klaren Bild fügt. Diese Landschaft im Spiegel, die in jedem Augenblick neu entsteht und von der wir uns ununterbrochen entfernen, ist die Vergangenheit.«
Die Villa Aurora in den Hügeln von Pacific Palisades, fast ausschließlicher Handlungsort des Romans – Schauplatz einer Selbstbefragung und Vergewisserung, die auch vor den eigenen Inferioritäten nicht Halt macht und am Ende den Ursprung des eigenen Schreibens in den familiären Demütigungen der Kindheit verortet – kennt Klaus Modick aus eigener Erfahrung, denn er konnte ein Aufenthaltsstipendium dort nutzen, um sich nach seinem Roman »Die Schatten der Ideen« nun mit »Sunset« erneut dem für die deutsche Literaturgeschichte so wichtigen Thema des Exils zuzuwenden. Er hat sich dieser erzählerische Aufgabe mit großem Einfühlungsvermögen angenommen. Und die rigorose Klarsicht, mit der er Feuchtwanger die Stationen seiner Vergangenheit durchwandern lässt, erinnert an den alles beschwörenden und verzehrenden Bewusstseinsstrom des sterbenden Vergil in Hermann Brochs »Der Tod des Vergil«, diesem großen Roman des Exils.
Doch während Broch auf die Figur des antiken Dichters der Äneis zurückgreifen musste, um über das Exil sprechen zu können und ihn zudem in die Heimat zurückkehren lässt, ist Lion Feuchtwanger inzwischen allein in der Fremde. Eisler, Chaplin, Thomas Mann, Döblin, Heinrich Mann, Werfel – die Gefährten des Exils sind längst nach Europa zurückgekehrt oder gar gestorben.
Und nun also auch Brecht, der 9 Jahre zuvor, 1947, das Flugticket für die Heimreise heimlich schon in der Tasche, gemeinsam mit Ruth Berlau bei ihm erschien, um sich zu verabschieden, bevor er zur Vernehmung vor dem McCarthy Untersuchungsausschuss in Washington erscheinen musste. »Kommen Sie bald nach!« hatte ihm Brecht damals bei der Abfahrt noch zugerufen. »Sie kommen doch bald nach, nicht wahr?«
Nein, Lion Feuchtwanger und seine Frau Marta, seit 23 Jahren im Exil, können sich eine solche Rückkehr nicht vorstellen. Nach einem der endlosen Verhöre, die sie seit Jahren über sich ergehen lassen, weil sie doch noch die amerikanische Staatsbürgerschaft beantragt hatten, war »eine schwere Müdigkeit« über ihn gekommen, die sogar sein Schreiben in Mitleidenschaft gezogen hatte.
»Das Bedürfnis, ja, die Verpflichtung, die Welt erklären zu müssen, dieser Drang zerfiel. Er wollte die Welt nicht mehr erklären, weil die Dummheit nie zu besiegen wäre und weil er sich nicht mehr sicher war, ob er die Welt noch verstand. Er machte sich eine Notiz für den Jefta-Roman. ‚Der Schreiber‘, schrieb er, ‚gab es auf, die Geschehnisse zu deuten, und beschränkte sich darauf, sie niederzuschreiben; mochten die Späteren sie gemäß ihrer eigenen Einsicht erklären.‘«
»Sunset« ist eine solche Deutung eines Späteren, elegant zugespitzt auf wenige Stunden im Leben des alternden Lion Feuchtwanger, die zudem daran erinnert, dass der große Roman zum Thema Exil immer noch aussteht. Niemand unter den deutschen Gegenwartsautoren wäre zur Zeit besser geeignet, diesen Roman zu schreiben, als Klaus Modick.
Erstveröffentlichung: Glanz & Elend, Magazin für Literatur und Zeitkritik